Nachgereichte Identitäten

Mikrohistorisches Klein-Klein oder friedliche Koexistenz in der Nachwende-Lebenswelt: Auf dem 40. Historikertag in Leipzig wurde die alte Kontroverse zwischen Kulturalisten und Gesellschaftswissenschaftlern begraben  ■ Von Ralph Bollmann

Genau hundert Jahre nach ihrem ersten gesamtdeutschen Kongreß trafen sich die Historiker wieder in Leipzig. Es war eine Rückkehr im doppelten Sinn. Kurz nach dem Historikertag von 1894 war der „Lamprechtstreit“ ausgebrochen, in dem der Leipziger Historiker Karl Lamprecht mit seinem Konzept einer Kulturgeschichte unterlag, die auch lebensweltliche Aspekte einbezog. Für lange Zeit hatte das eine fatale Dominanz der reinen Politikgeschichte zur Folge, einen deutschen Sonderweg auch auf dem Feld der Historiographie.

Auf dem diesjährigen 40. Historikertag, der unter dem Motto „Lebenswelt und Wissenschaft“ stand, präsentierten sich dagegen kulturgeschichtliche Ansätze, allen voran die „Historische Anthropologie“, als etablierter Teil des Fachs – noch vor zwei Jahren, auf dem Kongreß in Hannover, waren sie von den Vertretern der dominierenden Gesellschaftsgeschichte aufs heftigste attackiert worden.

Vor „luftigem Kulturalismus“, der sich in „mikrohistorischem Klein-Klein“ verliere, hatte Jürgen Kocka in der Diskussion um die Alltagsgeschichte gewarnt. Auch Hans-Ulrich Wehler, dem Nestor der Bielefelder Schule der Historischen Sozialwissenschaft, galt sie einst als „biederer Hirsebrei“.

Ausgerechnet Wehler sorgte sich nun in Leipzig, die „Erkundung der Kultur stünde in Gefahr, vernachlässigt zu werden“, wenn sich die Nationalismusforschung allzusehr aufs Politische konzentriere. Auf der anderen Seite widmete sich die Zeitschrift WerkstattGeschichte, das Zentralorgan der Alltagshistoriker, dem Polit- Thema „Nationen in Europa“. Daß sich die beiderseitige Annäherung just am Thema des Nationalismus manifestierte, ist kein Zufall. Die Ereignisse seit 1989 haben den Historikern zunächst die Veränderungskraft politischer Prozesse, danach das Beharrungsvermögen von Mentalitäten drastisch vor Augen geführt.

Nun wäre die Historie keine Wissenschaft, käme es nicht auf dem noch relativ unerschlossenen Gebiet der Nationalismusforschung sogleich zu neuem Streit. Bislang herrschte unter den Historikern die von Wehler vertretene Auffassung vor, der Nationalismus sei in der Französischen Revolution zunächst als emanzipatorische Kraft entstanden. In den Jahren der Reichseinigung habe es dann eine „Wende vom linken zum rechten Nationalismus“ gegeben, so die schon fast klassische Formulierung Heinrich August Winklers. Sein Berliner Kollege Wolfgang Hardtwig sprach dagegen von einem „Protonationalismus“ schon in der frühen Neuzeit und aggressiven Zügen des Nationalismus schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nationalismus als Emanzipationskraft

Während Wehler die Kontroverse zuspitzte und als „vielversprechend“ pries, wollte Winkler „die Debatte entdramatisieren“. Daß sich der Nationalismus als Elitephänomen bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lasse, sei ebenso unbestritten wie die Tatsache, daß er erst 1789 zum Massenphänomen wurde. Dieter Langewiesche (Tübingen) wies auf eine „Aggressionslatenz“ bereits des frühen Nationalismus hin: „Der Krieg war der Vater des Nationalstaats.“

Am Rand des Kongresses hielt der amerikanische Historiker Konrad H. Jarausch einen Vortrag über „Normalisierung oder Re- Nationalisierung? Zur Umdeutung der deutschen Vergangenheit“. Konservative Historiker versuchten, so Jarausch, mit dem Schlagwort der „Normalisierung“ die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts als „Drama von Schuld, Sühne und Erlösung“ zu inszenieren. Weil aber andererseits ein reiner Verfassungs- und Wirtschaftspatriotismus als Grundlage einer Gesellschaft auf Dauer nicht ausreiche, „stehen die Historiker vor der Herausforderung, an der Bildung eines demokratischen Selbstbewußtseins mitzuwirken“.

Die breite Akzeptanz verschiedener Ansätze in der Geschichtswissenschaft bedeute aber nicht Beliebigkeit, betonte Wolfgang Kaschuba, der an der Berliner Humboldt-Universität Europäische Ethnologie lehrt. Vielmehr handle es sich um „die Bestimmung des Zugangs vom Gegenstand und nicht des Gegenstands vom Zugang her“. Ein Beispiel dafür liefert die Geschlechtergeschichte, wie Edith Saurer (Wien) verdeutlichte: „Die anthropologische Wende in der deutschen Geschichtswissenschaft war von der Geschlechtergeschichte getragen.“ Die Historische Anthropologie, so Richard van Dülmen (Saarbrücken), habe den Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt gestellt und das Fremde in der eigenen Geschichte entdeckt.

Womöglich rührt die friedliche Koexistenz der verschiedenen Ansätze auch aus dem Selbstbewußtsein einer Wissenschaft, die – anders als Nachbardisziplinen wie die Politologie – stets auf der Offenheit von Geschichte beharrte und daher die Epochenwende von 1989 eher gestärkt als beschädigt überstand.

Lothar Gall, der Vorsitzende des Historikerverbands, konnte sich denn auch gar nicht oft genug freuen, ein Fach zu vertreten, „das in voller Blüte ist“. Auch der Soziologe Wolf Lepenies bezeichnete die Geschichtswissenschaft in seinem Eröffnungsvortrag als „menschlichstes und buntestes aller Fächer“.

Ganz so, daß die Historikerzunft mit ihrer kulturgeschichtlichen Erweiterung, der „nachholenden Modernisierung“ (Hardtwig) bloß wieder dort angekommen wäre, wo sie vor hundert Jahren in Leipzig schon einmal war, ist es allerdings nicht. Von der Idee des Fortschritts müssen sich die Historiker jedenfalls nicht ganz verabschieden, wie ihnen der Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube zeigte.

Während 1894 sein damaliger Amtsvorgänger Trödlin vor dem Kongreß der Geschichtswissenschaftler noch die Völkerschlacht beschwor, berief sich Lehmann- Grube auf das Erbe von 1989: „Daß wir unsere Identitätsressourcen nicht mehr im Soldatischen, sondern im zivilen Ungehorsam suchen, ist doch ein Quantum historischen Fortschritts.“