„So many Souvenirs!“

Eine Stippvisite am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie oder: Wo die Erinnerung verkauft wird  ■ Von Thorsten Schmitz

Der Grenzsicherer

Rudolf Neubauer*, 59, hat seinen Arbeitsplatz vor vier Jahren verlassen. Und seitdem nie wieder gesehen. Bis zum Fall der Mauer stöberte er in Kofferräumen, stempelte Reisepässe, ließ Grenzgänger nach Ost-Berlin passieren. Am 2. Juli 1990 brachte er zum letzten Mal eine Achtstundenschicht am Übergang Checkpoint Charlie hinter sich. Auf dem Weg nach Hause schwor er sich damals, diese Ecke in der Friedrichstraße fortan zu meiden. Den Vorsatz hat er bis heute gehalten.

„Ich will daran nicht erinnert werden“, raunzt der Mann durchs Telefon. Er kann „einfach nicht verstehen“, warum „westliche Journalisten“ ihn nicht in Ruhe lassen. Der 3. Oktober müßte für ihn „Volkstrauertag heißen“.

Die Arbeitslosigkeit hat ihn „depressiv“ gemacht. Der Grenzwächter fühlt sich, „als hätte mir jemand das Licht ausgeknipst“.

Bevor er grußlos den Hörer auflegt, sagt Rudolf Neubauer: „Ich habe auf der falschen Seite gestanden.“

Die türkische Händlerin

Der Himmel ist blau, und das Geschäft mit der Erinnerung floriert. Alle 15 Minuten hält ein Großraumbus am Checkpoint Charlie. Die Touristenführer geben ihren Kunden maximal 20 Minuten zum Wühlen in der Vergangenheit. In 20 Minuten kann man einiges kaufen.

Die junge Frau mit dem Kopftuch steht seit zwei Jahren hinter einem schiefen Campingtisch und spricht außer Türkisch fließend die nötigen Brocken Französisch und Englisch. „What size you need?“ „Ça fait vingt Deutsch Mark.“

Sie offeriert giftgrüne Trabis, gelbe und schwarze. T-Shirts, auf denen die Sonne überm Brandenburger Tor untergeht. Bernsteinketten und Helme der Nationalen Volksarmee. Fahnen mit Hammer und Sichel und Ledergürtel mit einem Sowjetstern auf der Schnalle. Sie könne genausogut auf einem Markt in Istanbul stehen, sagt sie. „Die Leute kommen aus dem Bus und interessieren sich nicht wirklich für diesen Platz. Die wollen nur kaufen.“

Und die türkische Händlerin will verkaufen. „Der Checkpoint Charlie bedeutet mir nichts. Ich habe damit nichts zu tun.“

Der Entertainer

Harald Juhnke steht im schwarzen Anzug zwischen Baustellen und dem Eingang eines Cafés und wartet auf sein Taxi. Neben ihm der Damenfriseur „Hairpoint Charlie“, um ihn herum Aufschwung Ost: Lärmgewitter aus Bohrern und Betonmischmaschinen. Er befindet sich auf Ostberliner Boden und hat soeben ein Interview absolviert. Er steht da ganz allein, nestelt an seiner Sonnenbrille und erschrickt bei der plötzlichen Frage, ob er etwas fühle am Checkpoint Charlie. Selbst in den trostlosesten Ecken ist man vor verbalen Überfällen nicht gefeit!

Das Taxi kommt, Harald Juhnke steigt etwas schwankend ein. „Auf in den Westen!“ sagt er in Cowboylaune zum Fahrer.

Die Kioskverkäuferin

Mit der Mauer vor der Haustür ist Hilde Jekat* aufgewachsen. 29 Jahre, solange der Checkpoint Charlie existierte, pinkelte Frau Jekats Mischling gegen den antifaschistischen Schutzwall. Lauschig war es immer, bei offenem Fenster im Sommer hörte sie die Vögel wie auf dem Dorf.

Frau Jekat, Ende 30, steht früh um fünf auf, geht mit ihrem Hund Gassi und schließt dann ihren Kiosk auf. Zwischen ihrer Wohnung und dem Zeitungsladen liegen anderthalb Minuten Fußweg.

Jeden Tag bis zu vierzigmal sagt Hilde Jekat den gleichen Satz: Das Mauermuseum befindet sich gegenüber. Ein Stück Mauer sehen Sie, wenn Sie die Zimmerstraße rauflaufen, auf der linken Seite. Die Mauer teilte die Zimmerstraße der Länge nach auf.

Frau Jekat erträgt die Fragerei, sie wäre ja auch froh, wenn ihr jemand Auskunft gäbe: Von einem der weltweit berühmtesten Plätze ist nur der Name übriggeblieben. Wenigstens die Baracke hätten sie stehen lassen können, findet Frau Jekat. So aber bleibt den Touristen nur die Erinnerung in Form von Einwegfeuerzeugen mit Brandenburger-Tor-Emblem. Kitsch as Kitsch can.

Als würde man heute noch dafür bestraft werden können, erzählt Frau Jekat im Stehen und mit verhuschtem Blick von der Kommunikation an der Mauer. Wenn beim Spielen ein Ball rübergeflogen war, kam er fast immer wieder zurück. Den Männern im Wachturm hat sie schon mal zugeblinzelt. Und wenn sie ganz mutig war, Zigaretten rübergeworfen.

Und plötzlich, mitternachts, kurz vorm Schlafengehen, war alles vorbei. Plötzlich konnte man da spazierengehen. Und die vielen Autos jetzt. Es sollte dann noch zwei Wochen dauern, bis Hilde Jekat den Grenzübertritt wagte. „Man mußte sich ja erst mal darüber klarwerden, daß man da nun rübergehen durfte.“

Der Fotoladenbesitzer

„Eins, zwei, drei, vier, sooo, und nicht den Rand abschneiden, so abgeben.“ Der Mann vom Fotoladen lebt davon, daß er eiligen Menschen vier Paßfotos hinfächert und ihnen hundertmal am Tag den gleichen Rat erteilt. Er tut das an geschichtsträchtigem Ort in einem braun getäfelten Laden. Seit Jahrzehnten, aber was ist schon dabei. „Eins, zwei, drei, vier, sooo, und nicht den Rand abschneiden, so abgeben.“

Viel fällt ihm nicht ein zum Checkpoint Charlie. Na ja, ist alles viel größer geworden. Und überhaupt ist er an einem Gespräch über Erinnerung nicht interessiert. Es muß schon ganz weit weg sein für ihn, die Sackgasse Checkpoint Charlie. „Na ja, wer sich daran immer noch nicht gewöhnt hat...“

Vielleicht steigt der Umsatz mit Filmen parallel zum Verschwinden von Grenzübergangsresten. Damit die Touristen wenigstens den Platz festhalten können, solange er noch wuchert. Auch dazu will der Fotoladenbesitzer nichts sagen. Vielleicht hat man ihn schon zu oft gefragt. „Eins, zwei, drei vier, sooo, nicht den Rand...“

Der Blockadebrecher

Johnny Macia trägt eine Fliegerjacke, darauf steht: Blockade Busters. Soll er einen NVA-Helm kaufen? Seine Frau verzieht das Gesicht. Lieber ein T-Shirt mit Viersektorengrenzeaufdruck. Macia willigt ein und nimmt gleich drei, Extra Large. Für Tochter und Sohn in San Francisco.

Der 58 Jahre alte Kalifornier hat Berlin 1948 und 1949 mit Lebensmitteln versorgt; er flog die Strecke Celle–West-Berlin mit einer C 54 Skymaster. Berlin findet er wunderbar, Checkpoint Charlie sowieso. „So many Souvenirs!“ Aber warum verkaufen die hier fast nur russisches Zeugs?

Im Keller seines Hauses in der Downtown „Frisco“ hat er einen „War Room“ eingerichtet mit Fotos von inzwischen verstorbenen Fliegerkollegen, funktionsuntüchtigen Handgranaten, Fahnen und Modellbombern. Eines von den drei T-Shirts wird er dort archivieren. Jeden Tag hockt er in seinem „War Room“, seine Frau hat sich damit abgefunden. „Why not?“ sagt sie und drängt zum Gehen. Der Busfahrer winkt schon.

Zum Abschied läßt John Macia noch den einzigen deutschen Satz fallen, den er fehlerfrei ausspricht: „Wir vergessen nicht.“

Die Boutique-Angestellte

Art Shop heißt der winzige Laden, in dem die Erinnerung an Todesstreifen und Mauer-Graffiti recycelt wird. Das billigste Stück Stein, mit Neonfarbe besprüht und Echtheitszertifikat, kostet 9,80 DM. Gerade amerikanische Dreitagestouristen „sind gierig nach der Mauer“, sagt die Angestellte. Und wer ein T-Shirt mit Mauerkunst kauft, dem legt sie das gleiche Motiv gratis als Postkarte mit in die Tüte. Wie um zu versichern: Das Graffito gab es wirklich mal. „Die Leute brauchen Beweise, um die Absurdität zu verstehen.“

Ein Vater kommt herein und blättert in einem Mauergraffitikalender. Er kauft ihn für seinen Sohn. „Der findet die bunten Bilder ganz toll.“

Es gebe auch Menschen, die höchstens mal eine Postkarte kauften, wenn überhaupt, sagt die Angestellte: „Die wissen, daß man Erinnerung nicht kaufen kann.“

Der Museumschef

Das Haus am Checkpoint Charlie nennt sich „Aktives Museum“. An 365 Tagen im Jahr von 9 bis 22 Uhr halten 25 Mitarbeiter die Türen für die Besuchermassen offen.

Spielfilme, vier Dauerausstellungen, die Totenmaske Andrej Sacharows, fünfzehn Räume, abenteuerliches Fluchtgerät, sechs Bildschirme. Die Mauer lebt auf zwei Etagen. Jede Fotografie, jeder Videofilm zementiert die Erinnerung. Und pflanzt sie in die Köpfe Tausender Schüler, die die DDR nur aus dem Geschichtsunterricht kennen. Wer kann sich schon vorstellen, wie eine Stadt geteilt wird. „Wir haben die Mauer erst richtig berühmt gemacht“, sagt der Museumschef. Warum das alles, weiß er selber nicht so genau. „Wenn ich ehrlich bin.“

Rainer Hildebrandt hat das Museum vor 31 Jahren gegründet und leitet es bis heute. Der Bürgerrechtler Wolfgang Templin übernimmt demnächst das Zepter, denn Hildebrandt wird im Dezember 80. Noch ist er sieben Tage die Woche in dem Haus. Und pflegt einen eigenartigen Kult: In der Cafeteria sitzen zwei junge Mädchen. Hildebrandt geht auf sie zu, sagt, es sei Tradition des Hauses, jeden Tag den zwei hübschesten Frauen einen Museumskatalog zu schenken, und überreicht ihnen die Bücher. Die Mädchen werden rot.

„Wir sind ein gewaltfreies Menschenrechtsmuseum“, sagt Hildebrandt. Täglich 2.000 Besucher, und die Nachfrage ist ungebrochen. Solange eben Geschichten erzählt werden können, die „in der Mauer stecken“. Und: „Wir zeigen nicht das Blut.“ Darauf beruhe der Erfolg. Er selbst kennt die fünfzehn Räume auswendig, und betritt sie doch jeden Tag. „Allein schon wegen dem Staub.“

Haß hegt Hildebrandt auf seinen eigentlichen Arbeitgeber Erich Honecker nicht im geringsten. „Hätten Sie Honecker gerne einmal getroffen?“ – „Ja. Ich denke jeden Tag an ihn. Ich würde ihm gerne zeigen, was aus allem geworden ist.“ – „Und was würden Sie ihm zeigen?“ – „Ich würde mit ihm über den Alexanderplatz spazieren. Ihm das saftige Leben zeigen, den großen Verkehr.“

* Namen von der Red. geändert