Treulose Knaben

... und Matrosen und Redakteure von Schiffahrtszeitungen in einer Anthologie schwuler Lyrik  ■ Von Rolf Spinnler

Aus Schulzeiten sind sie den meisten noch in Erinnerung: jene in grünes Leinen gebundenen Prunkstücke mit Titeln wie „The Word Sublime“ oder „Deutsche Dichtung der Neuzeit“. Ihr Inhalt: ein Schnellkurs durch die Geschichte der englischen oder deutschen Lyrik, von Gryphius bis Enzensberger, von Shakespeare bis Philip Larkin. „Anthologie“, zu deutsch „Blütenlese“, nennt sich so etwas: auf jeder Seite ein neuer Autor, ein neues Gedicht. Es sind fast immer dieselben Texte, auf die man in solchen Sammlungen stößt; und wenn es doch einmal Abweichungen und Veränderungen gibt, dann signalisieren sie einen kulturellen oder politischen Umbruch, der eine Neubewertung der Tradition erzwungen hat.

Die Blüten einer bestimmten Farbe suchte man dort allerdings bislang vergebens. Verse wie diese etwa: „Zähle sie alle im Bett. Drei sind es: zwei davon handeln, / Zwei davon leiden. Vielleicht hältst du die Rechnung für falsch. // Doch sie stimmt schon genau. Denn der in der Mitte dient zweien: / Hinten vergnügt er den Freund, vorne vergnügt er sich selbst.“ Ein Epigramm des hellenistischen Dichters Straton aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.

Oder auch ganz andere Töne wie diese hier: „Ich sage, das, was stirbt, befriedigt nicht / Einen, der lebt. Nicht aus der Zeit genommen / wird Ewiges; sie häutet sich zu sehr. // Was seelentödlich aus den Sinnen bricht, / ist keine Liebe. Unsre macht vollkommen / die Freunde hier und durch den Tod noch mehr.“ Es handelt sich (in Rilkes schwacher Übersetzung) um die beiden abschließenden Terzette eines Sonetts von Michelangelo an den jungen römischen Aristokraten Tommaso Cavalieri.

Beide Texte kann man jetzt in einem Taschenbuch nachlesen, das der Göttinger Literaturkritiker Joachim Campe zusammengestellt hat: Auf knapp 200 Seiten präsentiert er eine Auswahl „homosexueller Poesie von der Antike bis zur Gegenwart“.

Dem Herausgeber einer solchen Sammlung bieten sich mehrere Möglichkeiten. Die apologetische: Er möchte demonstrieren, daß die Männerliebe immer schon ein Thema der Literatur war, auch und gerade der als „klassisch“ approbierten – die Qualität der Texte adelt das anrüchige Sujet. Oder man versteht die Anthologie als historische Dokumentation, eine Art „Kulturgeschichte der Homosexualität im Spiegel der Poesie“: Gesammelt wird dann jedes Blümchen, das auch nur einen blassen rosa Schimmer erkennen läßt. Die dritte Möglichkeit wäre der Mut zur Subjektivität: Der Herausgeber stellt ein Lesebuch der Gedichte zusammen, die er auf die einsame Insel mitnehmen würde.

Campe hat sich diesmal für eine Art Kompromiß entschieden. „Bedeutende Autoren haben von Gefühlen für das eigene Geschlecht gedichtet“, schreibt er im Vorwort – also bietet er den klassischen Kanon: Vergils zweite Ekloge und die römischen Epigrammatiker; die Sonette von Michelangelo und Shakespeare; Platen und Whitman, Verlaine, Kavafis und Lorca. Daneben gibt es dann aber auch hierzulande wenig bekannte Autoren – vor allem aus den letzten hundert Jahren –, von Campe und einigen Mitstreitern häufig erstmals ins Deutsche übersetzt. Es sind faszinierende Entdeckungen darunter. Der Schwede Vilhelm Ekelund etwa; der Spanier Luis Cernuda (sein „Matrosen sind der Liebe Schwingen“ hat der Anthologie zu ihrem Titel verholfen); oder der Portugiese António Botto mit seiner blasphemisch-obszönen Umdeutung der katholischen Bilderwelt: „Und im matten Licht / Einer Laterne / Flüsterst Du mir ins Ohr: / – Ich will Dir meinen Leib geben. / Und ich füge hinzu: – Nun ja.“

Und dann die Holländer: vor allem Jacob Israel de Haan, ein Kultautor der niederländischen Schwulenszene – seine Verszeile „nach Freundschaft ein so maßloses Verlangen“ aus dem Sonett „An einen jungen Fischer“ ist als Parole ins Amsterdamer Homosexuellendenkmal eingraviert.

Die Zitate von Straton und Michelangelo zeigen es: Die Bandbreite der poetischen Tonlagen reicht von der geistreich-frivolen Pointe bis zur Seelenfreundschaft des platonischen Eros. Obszönität und Metaphysik markieren die Pole, zwischen denen sich homoerotische Poesie bewegt. Da geht es nicht immer politisch korrekt zu: Die römischen Satiriker fürchteten den Vorwurf der Misogynie nicht, wenn sie begründen mußten, warum ein süßer Knabe den Frauen vorzuziehen sei. Überhaupt: Der Hedonismus und urbane Zynismus der Spätantike scheint uns in vielem näher als etwa der christliche Platonismus Michelangelos, Shakespeares oder Platens. Geld und Sex, Sport und Sex – das waren auch damals schon Themen der Literatur. Noch einmal Straton: „Schön ist der trockene Staub am Knaben aus der Palaistra [= Sportplatz], / Schön ist der Schimmer am Leib, der gesalbt ist mit Öl.“

Ja, das scheint zeitlos zu sein – Muskeln und Schweiß sind auch heute noch Qualitäten, die den Coverboy des Schwulenmagazins begehrenswert machen. Und doch – ohne die Dämonisierung des Fleisches und die Spiritualisierung des Begehrens im Christentum hätte die homoerotische Poesie nicht jenes Pathos der „Überschreitung“ und der „heiligen Sünde“ gewonnen, wie es für die schwule Ästhetik von Verlaine bis Pasolini, von Caravaggio bis Robert Mapplethorpe so charakteristisch ist.

Was fehlt? Verse wie diese etwa: „Nur lächeln war / Was du gegeben / Aus nasser nacht / Ein glanz entfacht.“

Ja, die Maximin-Hymnen aus Stefan Georges „Siebentem Ring“ hätten hierher gehört; aber die George-Stiftung hat die Abdruckgenehmigung verweigert – offenbar fürchtet das Stiftungskuratorium, die „nasse nacht“ könne durch die Nachbarschaft einiger frivoler Texte ihre Reinheit verlieren. Die Beschränkung auf den europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis läßt sich wegen der Übersetzungsprobleme bei arabischer oder japanischer Lyrik rechtfertigen (einzige Ausnahme bei Campe: der mittelalterliche persische Dichter Hafis). Aber was ist mit Fernando Pessoa, etwa seinem „Gruß an Walt Whitman“? Bei den Römern fehlt Catull; bei den Amerikanern Thom Gunn, dessen „Touch“ eines der schönsten neueren Liebesgedichte in englischer Sprache ist – sprachlich durchgeformter und stilbewußter als beim von Campe arg überschätzten Allen Ginsberg.

Und die Deutschen? Gut, John Henry Mackay kann man für wilhelminischen Kitsch halten – obwohl die Strausssche Vertonung des Schmachtfetzens „Heimliche Aufforderung“ als Zugabe bei Jessye-Norman-Liederabenden von den schwulen Fans regelmäßig mit Ovationen bedacht wird ... Aber Theodor Däubler wäre ein würdiger Ersatz für George gewesen – in seinen besten Gedichten trifft er den bukolischen Ton überzeugender als der Hohepriester aus München: „Der hohen Berge froher Knabe / Erzählt uns von der schönsten Nacht [...]“ Um schwule Lyrik von jüngeren Autoren ist es bei uns offenbar trostlos bestellt; einzig der Leipziger Thomas Böhme ist hier ein Lichtblick.

Kleine Fehler gibt es auch im Kommentarteil. Der Amerikaner Hart Crane lernte seinen Lover Emil Opffer nicht 1921 in Cleveland, sondern 1924 in New York kennen – und der war kein Matrose, sondern Redakteur bei einer Schiffahrtszeitung. Und noch ein Einwand: Bei Campe herrscht ein Übergewicht von Texten, die man als „Knabenlyrik“ bezeichnen könnte. Das mag historische Gründe haben. Denn die Päderastie nach antikem Vorbild galt lange als das einzige Modell von Homosexualität, das überhaupt literaturfähig war: Ein älterer, bisexueller Mann liebt einen Epheben (einen „bartlosen“ Knaben an der Schwelle zur Männlichkeit). Erst in den letzten 150 Jahren hat sich daran einiges geändert; so konnte Proust von sich sagen, er sei einer der ersten, der über Männer geschrieben habe, die nicht Knaben, sondern Männer lieben. Man wünschte, daß die Vielfalt zwischenmännlicher Leidenschaften in der Anthologie stärker zum Ausdruck käme.

Aber genug der Beckmesserei. Hätte man selbst auch eine andere Auswahl getroffen – eines zeigt Campes Lesebuch doch sehr schön: daß es so etwas wie einen Traditionszusammenhang homoerotischer Lyrik gibt. Es ist ja höchst problematisch, einen erst vor 125 Jahren geprägten Begriff wie „Homosexualität“ auf alle Zeiten und Kulturen anzuwenden – die „Konstruktivisten“ in der Nachfolge von Foucault würden sich heftig dagegen wehren. Aber sowenig es die Homosexualität gibt – es gibt literarische Formen und Motive, die durch die Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen wurden. Platen schrieb Ghaselen, weil Hafis welche gedichtet hatte; Lorcas „Sonettte von der dunklen Liebe“ sind eine Hommage an Shakespeare und Michelangelo; und Detlev Meyers „Ganz schön traurig“ ist eine Elegie in der Manier von Theokrit. Und auch die Ikonen und erotischen Topographien der Männerliebe werden sichtbar: Matrose, Naturbursche und androgyner Jüngling; Strand, Meer und nächtlicher Garten.

Was wir in unseren Schulbüchern immer vergeblich gesucht haben – hier ist es endlich greifbar: die Sehnsucht nach dem Traumprinzen, die Klage über den treulosen Geliebten, die Erinnerung an das flüchtige Glück der gemeinsamen Nacht.

„,Matrosen sind der Liebe Schwingen‘. Homosexuelle Poesie von der Antike bis zur Gegenwart“. Hrsg. von Joachim Campe, Insel Verlag (Insel-Taschenbuch 1599), 194 Seiten, 16,80 DM