Die Herrschaft – was ist das schon?

Saisonbeginn am Stuttgarter Staatstheater: Jürgen Kruses geniale „RichardII“-Inszenierung, Späßle g'macht; Rückzug ins Schwitzen dagegen in Martin Kusejs „Straßenecke“  ■ Von Christian Gampert

Der König ist ein Kind, ein garstiges, mädchenhaftes Kind, denn der Regisseur hat die Rolle mit einer Frau besetzt. Die Welt ist langweilig. Und Regieren ist ein Spiel. Von Anfang an läßt Jürgen Kruse keinen Zweifel daran, daß wir uns am Hofe Richards II. auf einer ziemlich maroden Party befinden, einer Party zum Tode hin. Hinten üben sie Fechten, an der Rampe richtet sich Richard auf seinem Thronsessel ein, der verhüllt im Parkett gestanden hatte und ihm dann aus dem Zuschauerraum entgegengerollt war. Das ist das Gottesgnadentum. „How far are we from dying / Is it nearly at an end“, singt die Edgar Broughton Band. Pompös gekleidete Gestalten stellen sich in einer Phalanx neben den Thron und lachen das Publikum aus. Man wirft sich Phrasen an den Kopf, juristische und politische Leerformeln: Heinrich Bolingbroke beschuldigt den Herzog von Norfolk, Norfolk beschuldigt Bolingbroke. Das übliche Geschwafel, Kasperle fürs Volk, Schachern um Platzvorteile.

Richard interessiert sich nicht die Bohne für die Animositäten der Landesfürsten. Er ist mit sich selbst beschäftigt: Die grandiose Anne Tismer zeigt die Figur als ungeduldiges, neurotisches, schwaches, frühreifes Wesen, das sich in der Kunst des Worte-Zerhackens übt, ein Gestörter mit hohem IQ, der sich in die Regierungsetage verirrt hat. Richard grunzt und knurrt und bleckt die Zähne und quetscht dabei laute eloquente, in Rhythmus und Melodie verbogene Shakespeare- beziehungsweise Schlegel-Sätze hervor.

Zu Beginn ist diese Marotte noch Herrschaftsparodie und Provokation. Sie sagt: Schaut her, wie saublöd man sich als König benehmen kann. Im Laufe des Abends aber wird dieses quietschende, gegen die Grammatik und die Realität ankämpfende Sprechen für Richard zur zweiten Natur werden: ein intellektuelles Wolfskind, das innerlich über seine Einsamkeit lacht, sich in Absencen und Lethargie flüchtet. Seine Verwirrtheit ist auch die Wirrnis eines Zeitalters, einer (personenfixierten) Regierungsform.

Dreieinhalb Stunden muß Anne Tismer auf ihrem Stühlchen ausharren neben ihren Günstlingen, die sich aufführen wie adlige Straßenköter, und ihren Feinden, die Politik noch ganz dreist als greinendes Sprüche-Absondern betreiben. Trotzdem ist es völlig egal, wer da gerade wen um die Ecke bringt oder intrigiert und koaliert: Die großartige Perfidie von Kruses Inszenierung besteht darin, daß diese Machtkämpfe so locker, so weltverachtend daherkommen, als ginge es um nichts. Es geht um die Herrschaft. Aber was ist das schon? Norfolk und Bolingbroke duellieren sich mit riesenhaften Schwertern, die sie kaum tragen können, zwei jämmerliche, tönende Karrieristen, die beide von Richard des Landes verwiesen werden. Cheer Girls schreien herum: eine Pseudo-Veranstaltung, ein Scheinkampf wie American Wrestling. Ein Narr lungert am Thron herum. Kinder singen vom Frühling, der sterbende Gaunt fährt mit einem Rollwagen durch die Szene, der König dreht an einer Drahtkrone: Wir sind in einem Lunatic Asylum, einer mittelalterlichen Kiffer-Fete, wir hören alte Rockmusik und in den Text geflickte Zitate („Es ist ein Leichtes, beim Gehen den Boden zu berühren“) – bis Richard den verbannten Bolingbroke auch noch enteignet. Jetzt formieren sich Richards Gegner, der Kinderkönig hat ausgespielt, es geht ans Sterben.

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Sterben muß auch James, „Neger“ in Hans Henny Jahnns „Straßenecke“ (von 1930). Martin Kusej hat das Stück zur Saisoneröffnung weihevoll-postmodern inszeniert in einem Bühnenbild, das wie ein leeres Schwimmbecken aussieht und also die schönsten Möglichkeiten bietet. Der bisexuelle Schwarze als Haßobjekt für frustrierte, ressentimentgeladene Normalos: ein nur scheinbar aktueller Stoff. Kusejs Mißverständnis besteht darin, daß er Jahnn für einen Dramatiker hält. In Wahrheit ist Jahnn eher ein Fall für die Kirche: Sprachvermessenheit und Sprachimpotenz liegen bei ihm dicht beieinander. Sein schweres Pathos ist manchmal unfreiwillig komisch. Ergo: Man müßte den selbstverliebten Predigtton aufbrechen, das Stück mit sozialen Situationen versehen.

Kusej tut das Gegenteil: Er inszeniert einen liturgischen Totentanz aus lauter peristaltisch sich windenden Leibern, die andauernd diese aufgeblähten Jahnn- Sätze hervorstammeln. Zu Ehren des Pferdeliebhabers Jahnn schabt ein Pferdekadaver über die Bühne; braune Soße quillt über die Treppen. Die geschundene Kreatur deklamiert an der Rampe. Offenbar ist es in Stuttgart fürchterlich schick, von sich selbst betroffen zu sein, solange der Hauptdarsteller im Ledermantel daherkommt (und nicht in Latzhosen, wie weiland üblich). Ein seltsames Geraune das Ganze, unpolitische Schlafsaalerotik, Rückzug ins Schwitzen. Eine Frau läuft als lebender Uhrzeiger im Kreis. „Es ist ein Fehler an allem Fleisch.“ Ach ja.

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Richards Fehler ist der Kopf: Er kann diesen ganzen Regierungszauber nicht ernst nehmen. Dieses Nachdenken beim Sprechen, Äh- Sagen, die Stimme hochziehen, Sätze probieren, sich selbst kommentieren – das ist ein Umgang mit Shakespeare, den so absolut respektlos nur Peter Zadek zu bieten hatte.

Kruse ist ein pessimistischerer Bruder im Geiste. Sein Blick auf Richard ist ein Blick in den zerbrochenen Spiegel: Die Welt ist banal, nichts lohnt. Das resignierte Kind als König: Die Inszenierung hält über lange Strecken eine Stille aus, in der nichts passiert, die aber Richards Innenleben quasi nach außen klappt. Er probiert Bärte an, übt die modernen Diktatoren-Posen und langweilt sich fürchterlich. Er will nicht kämpfen, sondern fliegen: Ständig spreizt er seine Arme wie ein Vogel. Er ist auf unschuldige Art böse; und seine Kontrahenten rasseln schön: Jürgen Rohe (Bolingbroke), ein Zyniker, Götz Argus (Northumberland), der immer mit dem ganzen Körper argumentiert.

Stefan Mayer hat ein Bühnenbild gebaut, in dem man immer noch etwas Neues entdecken kann: Es ist ein Halbrund (wie Shakespeares Swan-Theatre), ein Kursaal, eine Bahnhofshalle mit hohen Schwingtüren und allerlei Leitern, an deren Decke ein ganzes Sonnensystem hängt. Hinten stolziert der schwarze Engel der Geschichte, und ein Bischofsdämon, der Abt von Westminster, legt vereinnahmend seinen Mantel um Richard. Die Verschwörer Bolingbroke und York treten auf wie in holländischen Genrebildern: eine mittelalterliche Beckett-Party, müde und martialisch. Und Richards Hinrichtung ist mehr ein Selbstversuch: ein abgeknickter Kopf, ein Kasperlspiel, tot, aus, „Späßle g'macht“, wie man in Stuttgart sagt. Denn Jürgen Kruse verweigert den schönen, den tragischen Schluß: Er läßt das Ende verläppern. Anne Tismer, das Richard-Biest, steht wieder auf und sagt zu Bolingbroke: „Und du Idiot hast diese Sauerei angerichtet.“ Dann schmückt sie ihm den Thron: mit einem Totenschädel. Langsam geht das Licht an. Die Nachfolger sind immer noch schlimmer.

„Richard II“. Staatstheater Stuttgart. Regie: Jürgen Kruse; Bühne: Stefan Mayer. Mit Anne Tismer, Hans Josef Eich, Jürgen Rohe, Götz Argus u.a. Nächste Vorstellungen 14. und 22. Oktober.

„Straßenecke“ von Hans Henny Jahnn. Regie: Martin Kusej; Bühne: Martin Zehetgruber. Mit Bernhard Baier, Manfred Meihöfer, Andreas Schlager u.a. Nächste Vorstellungen: 15. und 21. Oktober.