Jenseits des Debattierklubs

Das Internationale Schriftstellerparlament tagte erstmals in Lissabon. Bislang ist es eine Baustelle, aber immerhin befindet sich einiges in Arbeit. Erste konkrete Initiative: Ein Netzwerk soll verfolgten Autoren aus aller Welt helfen  ■ Von Joachim Sartorius

Das Internationale Parlament der Schriftsteller, zu seiner ersten regulären Tagung vom 28. bis 30. September 1994 in Lissabon vereint, hatte sich sehr viel vorgenommen, vielleicht zu viel. Berichterstatter gaben Auskunft über Algerien, Haiti, Ruanda und Ost-Timor. Taslima Nasrin sprach über den Fundamentalismus in Bangladesch. Der ägyptische Schriftsteller Alaa Hamed, nach acht Jahren Haft wunderbarerweise wieder mit einem Paß ausgestattet – und wahrscheinlich dem heißen Wunsch Mubaraks, daß er nie mehr zurückkomme –, zeichnete ein finsteres Bild der islamistischen Entwicklung in Ägypten. Wole Soyinka, der nicht anreisen durfte, schickte eine flammende Aufforderung zum Kampf gegen das nigerianische Regime. In der eindrucksvollsten Rede vor dem Parlament brandmarkte die Journalistin Madeleine Mukabano, eine Tutsi, die Greuel in Ruanda als Völkermord. Das Parlament wußte nicht, wie reagieren auf so viel Entsetzen und Not. Die Versammlung der Autoren, eine in ihrer Heterogenität „paradoxale Gemeinschaft“ (Jacques Derrida), versteht sich als poetisches Forum, zugleich aber auch als politischer Ort, von dem Aktionen ausgehen zur Verteidigung der Freiheit von Dichtung und Wort.

Doch der Schriftsteller ist schwach, seine Macht beruht allenfalls darauf, daß er keine hat. In Lissabon zeigten die Autoren nicht ihre Krallen. Daß sie drei Tage zusammenhielten, berieten, in manchen Punkten auch Einigung erzielten, stellt vielleicht einen bemerkenswerten Sieg der intellektuellen Kaste über ihre eigenen Dämonen dar. Dem Betrachter von außen aber mußte das Parlament mehr einer Nebelspirale gleichen, aus der sich gelegentlich einzelne Funken lösten.

Wie war es zu diesem Parlament gekommen? Im Juli 1993, im Rahmen des Schriftstellertreffens „Carrefour des Littératures Européenes“ in Straßburg, rief eine Gruppe von Autoren zu seiner Gründung auf. Die Anreger waren Pierre Bourdieu und Jacques Derrida, sekundiert von Toni Morrison, Breyten Breytenbach, Adonis und Edouard Glissant. Salman Rushdie übernahm die Präsidentschaft und beglaubigte in seiner Person die Notwendigkeit „einer internationalen Einrichtung zur Schaffung konkreter Solidarität mit den Schriftstellern, einer Einrichtung, die sich zum Ort der Reflexion und des Austauschs neuer Formen des Engagements entwickeln kann“. Zu diesem Zweck wurde unter Vorsitz Rushdies am 14. Februar 1994 ein „Weltrat der Schriftsteller“ gegründet.

Ihm gehören, neben den bereits genannten Autoren, unter anderen Anita Desai, Carlos Fuentes, Lars Gustafsson, Jürgen Habermas, Elfriede Jelinek, Wole Soyinka und Miguel Torga an. Dieses Gremium hatte das Treffen in Lissabon vorbereitet, auf dem die Prinzipien des Parlaments überprüft und erstmals konkrete Aktionen erprobt werden sollten.

Schon vor der eigentlichen Eröffnung mußte sich das Parlament mit dem Paßentzug seines Mitglieds Wole Soyinka befassen. Mit dieser Präliminarie war man bereits inmitten der brisanten Gesamtthematik: Kann das Parlament speziell auf den Fall Soyinka eingehen? Muß es nicht zumindest alle anderen afrikanischen Schriftsteller, die in Not sind, inhaftiert sind, gefoltert werden und denen der politische Flankenschutz durch westliche Medienaufmerksamkeit fehlt, ebenfalls erwähnen? Oder ist das Parlament nicht überfordert, zu jedem Vorfall auf der Welt einen geharnischten Kommentar abzugeben? Begibt es sich nicht in die Gefahr, „chose commune“ mit den Mächtigen zu machen, wenn es sich in die Politik selbst einmischt? Der Fall Soyinka führte so zu einer Überprüfung von Rolle und Selbstverständnis des Parlaments. Die Resolution, die den Paßentzug als Maßnahme der Zensur verurteilte und die sofortige Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit für den Nobelpreisträger verlangte, machte deutlich, daß das Parlament sich nicht die Sache der Menschheit oder der Nationen insgesamt zu eigen machen will und es ihm vordringlich um die Freiheit des Wortes, um das ungehinderte Recht auf freie Äußerung geht. Und diese erste Resolution hatte insofern Erfolg, als das Europäische Parlament unverzüglich nachzog und in einer Beschlußvorlage „über die gewalttätige Verlängerung der Diktatur in Nigeria“ in einem umfangreichen Forderungskatalog auch die unverzügliche Rückgabe des Passes an Wole Soyinka forderte.

In den drei Lissaboner Tagen wurde, wie in jedem Parlament, viel palavert, viel gegiftet, viel hinter den Kulissen aufgebaut oder abgewürgt. Was übrigblieb, jenseits des Debattierklubs, von dem es so viele überflüssige Varianten auf der Welt gibt, waren drei weitere Resolutionen und der allererste Anfang einer konkreten Aktion des Parlaments, der Errichtung eines Netzwerks von „Städten der Zuflucht“.

Eine Resolution bezeichnete die Völker von Ruanda als Opfer des Verbrechens des Völkermordes im Sinne der UN-Resolution von 1948, die von 120 Staaten ratifiziert wurde. Das Parlament verlangt „die sofortige Einrichtung der notwendigen juristischen Mechanismen, um die Urheber dieses Verbrechens gegen die Menschheit zu verurteilen“. Darüber hinaus forderte das Parlament eine Soforthilfe an den ruandischen Staat, insbesondere von seiten der EU, der Weltbank und des IWF. Eine weitere Resolution, vom Internationalen Komitee zur Unterstützung algerischer Intellektueller (CISIA) vorgeschlagen und vom Parlament indossiert, ruft die Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aller Länder auf, alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu tun, damit algerische Demokraten an Institutionen und Hochschulen ihrer jeweiligen Länder Aufnahme finden. Eine vierte Resolution verurteilt die Besetzung Ost-Timors durch Indonesien und kündigt die Reise einer Kommission an, die die Lage der Intellektuellen in Ost-Timor untersuchen soll.

Die erste konkrete Initiative des Schriftstellerparlaments zielt auf die Schaffung eines Netzwerks aus Städten Europas und der Welt, die verbotenen, ihres Aufenthaltsrechts beraubten, um ihre Sprache und Staatsangehörigkeit gebrachten Schriftstellern ab 1995 Zuflucht, Lebens- und Arbeitsraum bieten. Straßburg, Amsterdam, La Gorée (Dakar) und Helsinki wollen in Kürze einem solchen Netzwerk beitreten, das bewußt unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelt ist und an die historische Mission der Städte als Orte der Freiheit und einen besonderen Begriff von Bürgerschaft (citoyenneté) anknüpft. Berlin hat den Anfang gemacht und am 29. September 1994 ein Abkommen mit dem Parlament geschlossen. In dieser Vereinbarung verpflichtet sich Kultursenator Ulrich Roloff- Momin, in Verbindung mit dem vom Berliner Senat kofinanzierten Künstlerprogramm des DAAD, von 1995 an eine Wohnung und ein nach Arnold Zweig benanntes Aufenthaltsstipendium an eine bedrohte Autorin oder einen bedrohten Autor zu gewähren. Die Entschlußkraft Berlins hat in Lissabon große Beachtung gefunden. Christian Salmon, der Generalsekretär des Parlaments, will das Abkommen als Hebel bei einer Reihe anderer Städte wie Lissabon oder Bordeaux benutzen.

Das alles ist, für eine erste Versammlung, eine gar nicht so schlechte Ernte. Die Schwierigkeiten des Parlaments lagen mehr auf atmosphärischem und prozeduralem Gebiet. Schriftsteller sind schlechte Politiker. Sie haben keine markigen Slogans auf Lager, obschon ein Witzbold vorschlug, man solle „das Netz der Städte der Zuflucht“ als „Operation Virus“ bezeichnen, als „Projekt für eine nützliche Epidemie“. Die Philosophie des selbsternannten Parlaments – die Dinge im Reden, im Diskutieren sich entwickeln lassen (Faire en se faisant), hat durchaus Charme. Die Stärke ist aber auch eine Schwäche. Denn sie erlaubt das freie Spiel der Eitelkeiten. Im Gegensatz zum PEN mit seinen häufig schläfrigen, in manchen Ländern fragwürdig zusammengesetzten nationalen Zentren, beruht das Parlament auf Individuen, auf Einzelpersönlichkeiten ohne nationale Rücksichtnahmen. Dennoch schwoll das Murren gegen eine französische Hegemonie von Tag zu Tag an. Gegen die geistigen Väter Pierre Bourdieu und Jacques Derrida, unterstützt von der eleganten, messerscharf argumentierenden Helène Cixous, konnten weder der libanesische Dichter Adonis noch Edouard Glissants Beschwörungen der kreolischen Sprache, des Dialogs von oraler und geschriebener Literatur und „eines archipelagischen Denkens an der Spitze von Isthmen und Begierden“ etwas ausrichten. Geburtsort und Geburtshelfer des Parlaments blieben stets zu spüren. Allein Breyten Breytenbach bot die Stirn. Er war es schließlich auch, der, um dem Eindruck eines Kartells des 5. Arrondissements zu wehren, eine Verdoppelung des „Direktorats“ vorschlug. So nahmen am letzten Tag, einstimmig gewählt, unter anderem die aus Neu-Delhi angereiste, würdevolle Anita Desai und der in Texas lehrende Schwede Lars Gustafsson ihren Sitz im Exekutivbüro des Parlaments ein.

Auch das „parlamentarische“ Verfahren bereitete Schwierigkeiten. Zu viele erdrückende, niederdrückende Berichte von den Brandherden der Welt und kaum Zeit zur Diskussion. Versäumt wurde auch, festzulegen, welche Sitzungen öffentlich und welche geschlossen sind. Das führte zu Mißhelligkeiten mit der versammelten Presse – verstärkt noch durch die Tendenz des Parlaments, zwischen Schriftstellern und Intellektuellen einerseits und zwischen diesen beiden Gruppen und den Journalisten noch einmal zu unterscheiden. Das war nicht nur überflüssig. Es war dumm. Nicht nur sind die Grenzen fließend (der wegen eines Journalistenausschlusses hocherzürnte José Saramago war über ein Jahrzehnt Chefredakteur der größten portugiesischen Tageszeitung), die anwesenden Journalisten, von arte, Libération, vom NDR und von Publico, waren ja Sympathisanten des Projekts. Man hätte sie leicht auf die Seite des Parlaments ziehen können. Statt dessen wurde die Kritik an der „medialen Diktatur“, die die Autonomie des Schreibenden gefährde, Thema eines ganzen Nachmittags – pauschalisierend vorgebracht. Taslima Nasrin, die, mit dem Schmelz der Jugend eindrucksvoll bescheiden, von ihrem Kampf für die Rechte der Frauen in islamischen Gesellschaften berichtete, war sichtlich verwirrt. Sie wollte in der Tat keinen Medienrummel um ihre Person, ließ das Parlament aber wissen, daß sie die Medien für ihren Kampf und als Schutz für ihre gefährdete Existenz benötigt.

Wie würde ein Fazit lauten? Das Parlament ist noch eine Baustelle. In Lissabon stand es unter Erklärungszwang. Organisationen wie Art.19, CISIA, Writers-in-Prison oder ai haben die gleichen Ziele und funktionieren. Worin liegt dann seine Singularität? Jacques Derrida nannte in den drei Tagen immer wieder zwei Hauptmerkmale, die für ihn „die dramatischsten Aspekte des Parlaments“ seien: der von den Schriftstellern selbst in die Hand genommene Kampf für die Autonomie der Literatur gegenüber politischer und wirtschaftlicher Macht und die Untrennbarkeit von politischer Aktion und poetischem Akt. In Lissabon hatte die Politik Vorrang. Man vernahm Dinge, die jeden verstummen ließen. Zwischendurch lasen Bei Dao und Adonis Gedichte. Sie setzten ihr lebendiges Wort gegen den Lärm der Waffen, gegen Gemetzel, gegen schrecklich wirklich gewordene Barbaren: Und ich sehe: die Zelte sind die Zelte, / ich sehe: die Ruinen sind die Ruinen, / Wege gesäumt vom Atem ihres Chaos, und das Feuer weiß was ich sage... Im Gespräch meinte Adonis, es gebe noch viel zu tun. Das Potential ist da.

Joachim Sartorius, Lyriker und Übersetzer, wurde am 30.9. 1994 gemeinsam mit John Michael Coetzee, Anita Desai und Lars Gustafsson in das Direktorat des Parlaments gewählt.