Leise in Erfurt – locker in Stuttgart

Bündnisgrüner Wahlkampf in Thüringen und Baden-Württemberg: Westplakate und Öko-Steuern ziehen im Osten nicht / Westgrüne geben sich selbstbewußt / Joschka betört seine Fans hier wie dort  ■ Von Heide Platen

Der Lehrer Gerhard Wien ist kein Wahlkampfmagnet. Er redet leise, formuliert präzise, argumentiert differenziert. Daß er blind ist, muß er Fremden erst sagen. Eigentlich ist er Landtagskandidat von Bündnis 90/ Die Grünen in Thüringen, aber der Bundestagswahlkampf bleibt ihm bei keiner Veranstaltung erspart. Die Trennung der beiden Wahlen am 16. Oktober ist für die kleine Partei ein unerreichbarer Luxus. Und die Bundestags-Spitzenkandidatin Vera Wollenberger kann jede Unterstüzung brauchen. Sie sei, sagen KritikerInnen freundlich, „eine sehr ehrenwerte Person, aber viel zu sanft“.

Wahlkampfkoordinator Klaus Fink gehört auch nicht gerade zu den vollmundigen Kämpfern. Vorsichtig sagt er, die Veranstaltungen seien eigentlich kein richtiger Wahlkampf, sondern „eine Info- Tour“. Widrigkeiten gibt es für die Bündnisgrünen in Thüringen gleich im Dutzend. Der Landesverband registriert 440 der bundesweit 43.000 Mitglieder der Öko- Partei. In einem Kraftakt besetzte er dennoch 42 der 44 Landes- und elf der 12 Bundeswahlkreise mit DirektkandidatInnen. Daß am 16. Oktober auch noch über die Landesverfassung abgestimmt wird, gegen die die Grünen votiert haben, bleibt außen vor: „Das übersteigt unsere Kräfte.“ Trotz Streß ist die Stimmung gut. Andere Landesverbände boten nach dem „Sachsen-Schock“ ihre Hilfe an, und es melden sich jede Woche sechs bis sieben neue Mitglieder.

Es ist, meinen die Grünen, im Osten ein Kreuz mit den vier Kreuzen für die beiden Wahlen. Doch die Kritik am Volk bleibt verhalten: „Erste und zweite Stimme, das haben viele Menschen hier einfach noch nicht verstanden.“ Die CDU- Plakate mit dem Slogan „Die zweite Stimme für den Kanzler“ haben da nicht gerade aufklärerischen Charakter. Landesgeschäftsführerin Katrin Hoyer sieht für Thüringen vorerst eher schwarz als grün. Sie hofft auf die Zweitstimmenkampagne, die es in Sachsen nicht gegeben hatte. Wichtigster Werbeträger sind deshalb die 850.000 Wahlkampfzeitungen, in denen steht, warum „Die 2. Stimme zählt“.

Ein Glück, meinen auch die Ostgrünen, daß es Joschka Fischer gibt. Der hat in Thüringen parteiübergreifende Fan-Clubs. Alle lieben ihn, vom Damenkränzchen bis zum autonomen Frauenhaus. Es komme gut, sagt Katrin Hoyer, daß er „so bieder, gemütlich, und freundlich“ wirke und immer „so gut angezogen“ sei: „Das ist was für Kleinbürger.“ Der Rest muß eben mit den Bierdeckeln, Eiskratzern, Luftballons, Kondomen, Info-Ständen und Plakaten überzeugt werden. Und da gibt es schon wieder ein Problem.

Die vier Plakatmotive mit dem Schriftzug „Ein Land reformieren“, die die Bonner Parteizentrale lieferte, sind nicht ganz osttauglich. „Die Leute“, sagt Fraktionspressesprecherin Barbara Burghardt, „haben hier in den letzten vier Jahren schon viel zu viele Veränderungen verkraften müssen.“ Die Thüringer druckten zusätzlich eigene Plakate, auf denen ihre KandidatInnen zu sehen sind. Daß für die Bundestagswahl aus Geldmangel erst ab dem 4. Oktober großflächig geklebt wird, meinen sie, könnte auch ein Vorteil sein. Die in Plastikhüllen verschweißten Werbeträger der CDU, die Erfurt zupflastern, sind schon „als Verschwendung“ kritisiert werden. Öffentlichkeitsreferent Rudolf Heym: „Die demonstrieren Masse und Macht. Vielleicht kommen wir da mit unseren kleinen, heimeligen Pappen besser an.“

Andere Probleme der Thüringer Grünen könnten Westdeutschen gleich ein doppeltes Déjà- vu-Erlebnis verschaffen. Ihre Gegner setzen ebenso auf die Ängste der Menschen, wie jene, die in den 50er und 60er Jahren suggerierten, der Russe komme ins bundesdeutsche Reihenhaus und nehme den Farbfernseher mit, und jene, die in grünen Gründerzeiten vor Öko- Diktatur, Müsli-Spinnern und Auto-Hassern warnten. Frauenreferentin Andrea Wagner: „Die Leute sehen, daß für sie alles besser wird.“ Sie mögen die verpackten Lebensmittel, ernergiesparenden Waschmaschinen, die Sanierung von Abwasserleitungen und Heizungen und knackiges Obst statt „stinkender Kartoffeln“: „Alles wird hell und sauber. Das können wir nicht so einfach mies machen.“

Von den Autos ganz zu schweigen. Manche haben im Nachholfieber mittlerweile bis zu acht Gebrauchtwagen im Hinterhof zu stehen. Klaus Fink grummelt in Richtung Bundesvortand: „Da ist die Forderung nach fünf Mark pro Liter Benzin nicht gerade hilfreich.“ Daß die Menschen sich mit ihrem Einkaufsverhalten grün orientieren, daran ist schon gar nicht zu denken: „Das machen hier nur ein paar Ausgeflippte.“

Das zentrale Wahlkampfthema eines ökologischen Steuersystems ist jedenfalls noch schwerer zu vermitteln als das mit der Zweitstimme. Da ist es schon ein kleineres Übel, wenn die aus Bonn nach der Sachsen-Wahl noch schnell mobilisierte Wahltour in Bad Salzungen landet, während die Basis in Bad Langensalza wartet. Wessis eben, die sich vor dem Supermarkt verabreden, während alle Ossis vor der Kaufhalle stehen.

Daß das Image der Naturschützer und Umweltfreaks ihnen schade, weil gerade dieser Bereich zu DDR-Zeiten eine Rückzugsnische des Widerstandes war, glauben die Bündnisgrünen nicht. Umweltpolitik zu machen, habe schon damals schon viel Mut erfordert: „Die Leute waren in der ersten Reihe, und das wird auch heute noch anerkannt. „Die wirkliche innere Immigration, das war der Keramikzirkel.“ Und der macht den thüringischen Landes- und KommunalpolitikerInnen der Bündnisgrünen mehr Probleme, denn es gibt auch in ihrem Bekanntenkreis viele Nichtwähler: „Die lesen nicht einmal mehr eine Zeitung.“ Und: „Das hat nichts mit uns zu tun, das ist einfach Resignation.“ Außerdem fehlt die Stammwählerschaft: „Doppelt verdienende Lehrer mit Bungalow und Feuchtbiotop haben wir hier nicht.“ Die Einsicht, „daß es nicht immer nur Fortschritt geben kann“, müsse erst noch wachsen. Und zu all dem haben die Grünen auch noch die PDS im Nacken. Da seien die Überreizungen im öffentlichen Ost-West- Streit der Bundesgrünen in Bonn „so hilfreich wie ein Kropf“ gewesen.

Die Geschäftsführerin des grünen Landesverbandes Baden- Württemberg, Inge Leffhalm, formuliert das diplomatischer. Der Bonner Konflikt sei im Vorfeld „sehr klug und maßvoll“ beigelegt worden. Da mag die Erinnerung an schlimmere Streitereien nachwirken.

Seit 1979 sind die Grünen im Stuttgarter Landtag, derzeit mit 13 Abgeordneten, der Landesverband zählt 6.000 Mitglieder, Zuwachs allein 1994 gut 15 Prozent. Von der PDS ist in Baden-Württemberg kaum eine Spur zu entdecken, die Ökologische Partei Deutschland (ÖDP) „kommt eher marginal vor“. Für den Bundestag wird mit acht bis zehn Mandaten gerechnet. 1.000 grüne KommalpolitikerInnen sitzen in Parlamenten und Gemeinderäten. Leffhalm tingelt bei Veranstaltungen als Direktkandidatin in Stuttgart und bemerkte in den letzten Jahren einen Stimmungsumschwung: „Wir sind anerkannt und werden ernst genommen. Da schlägt uns oft wahnsinnig viel Sympathie und Vertrauen entgegen.“

Sie erinnert sich an die Nöte, die die Thüringer heute plagen. Früher sei sie, „gerade bei Veranstaltungen mit älteren Menschen“, absichtlich übersehen und „offen angefeindet“ worden. Das gebe es selbst beim heiklem Thema Paragraph 218 nicht mehr, schon weil niemand mehr glaube, sagt die im sechsten Monat schwangere Kandidatin, daß ausgerechnet die Grünen kinderfeindlich seien. Dafür komme die CDU „schlecht weg“: „Da besteht eine große Skepsis gegen Kohl“, denn „die Leute sorgen sich um die soziale und ökologische Zukunft.“ Und: „Wir werden nicht mehr als Ein-Punkt-Partei gesehen.“ Den örtlichen FDP- Kandidaten Boris Bulling hält sie mittlerweile fast für ein Phantom. Den hat sie nämlich noch nie gesehen, weil er „überhaupt nicht kommt oder einen Stellvertreter schickt“.

Öko-Steuer als Wahlkampfthema? Ja, auch das gehe gut: „Nur ganz wenige jaulen auf. Wir müssen das nur richtig erklären.“ Und das, obwohl das Musterländle mit Automobilindustrie und Zulieferern von Entlassungen gebeutelt ist.

Die Menschen seien offener für die Gedanken über ökologisches High-Tech geworden. Den Grünen helfe dabei, daß „wir auch immer wieder sehr intensiv mit Industriemanagern diskutieren“.

Lebensfreude, gelassene Ausgeglichenheit im Bundestagswahlkampf suggeriert auch das Plakat der beiden SpitzenkandidatInnen Uschi Erd und Rezzo Schlauch, die über einem Blumenstrauß strahlen, als seien sie gerade auf Hochzeitsreise. Wahlkampfkoordinator Rainer Moritz ist zufrieden „mit der Uschi und dem Rezzo“. Der über die Landesgrenzen hinaus bekannte Rechtsanwalt, „unser Realo, der aussieht wie ein Fundi“, sei beliebt und komme „auch bei der Jugend gut an“ und sei außerdem „unglaublich belastbar“. Besonders begehrt beim Wahlvolk sind die Kneipentouren, die ihm, so wird vermutet, selber auch am besten gefallen. Nur einmal, erinnert sich Moritz, hat Schlauch „ziemlich daneben gelegen“. Die BewohnerInnen eines Altenheimes fanden es gar nicht komisch, daß er ausgerechnet dort den grünen Programmpunkt Erhöhung der Erbschaftssteuer ausgiebig behandelte.

Besonders zufrieden sind die Baden-Württemberger mit ihrem Faltblatt für Erstwähler, das von Jugendlichen entworfen wurde. Die versuchen, ihren AltersgenossInnen an die Wahlurnen zu treiben und ihnen klarzumachen, daß Wählengehen eben nicht uncool ist. In einer Jugendzeitung scheut sich die Öko-Partei auch nicht, festzustellen, sie habe im Musterländle, ganz Winner, „eine Marktlücke“, gefüllt. Sie erinnert maliziös daran, daß Ministerpräsident Späth ein Monatsgehalt verlor, als er einst darauf wettete, daß sie bald wieder aus der Politik verschwinden werde.

„Der Renner“ ist auch in Baden- Württemberg Joschka Fischer. In Freiburg brachte er 3.000 Menschen auf die Beine. Für ähnliche Zahlen mußte die SPD-Spitze in Frankfurt am Main zu dritt anreisen. Wahlkampfkoordinator Rainer Moritz ist schon gespannt, ob Fischer die Troika bei einer Veranstaltung am 6. Oktober in Heidelberg überholen wird.

Das eben, hatte eine Thüringer Feministin sinniert, mache vielleicht den wirklichen Ost-West- Unterschied: „Mit Fischer und Schlauch in einem Zimmer, das wäre mir zu voll.“ Von den Ost- KandidatInnen, meinte sie, könnten Dutzende unauffällig eine Universitätsbibliothek füllen.