Der Schwarzenegger des Fin de siècle

Pionier der Körperertüchtigung: Eugen Sandow war um 1900 ein erfolgreicher Vertreter dessen, was man heute Fitneß nennt. Der englische König ließ sich von ihm beraten, und sein Konterfei zierte sogar Streichholzschachteln  ■ Von Bernd Wedemeyer

Im Jahre 1904 erschien in deutscher Übersetzung ein Buch mit dem Titel „Kraft und wie man sie erlangt“, geschrieben von dem in England lebenden deutschen Gesundheitsapostel und Bodybuilder Eugen Sandow. Er entwirft darin ein düsteres Bild der modernen, kurz vor dem körperlichen und gesundheitlichen Kollaps stehenden Industriegesellschaft: „Der Druck und der Kampf des modernen Lebens haben gesunde Gewohnheiten ziemlich erheblich unterdrückt. Es gibt Tausende und Abertausende unserer Bevölkerung, welche nachts müde zu Bett gehen und morgens müde wieder aufwachen. Ein vielleicht noch größerer Teil weiß, was es heißt, Tag und Nacht unter nervösen Anspannungen zu leiden. Man ist nur zu leicht geneigt, den Tag in einem ungesunden Arbeitsraum zu verbringen, abends ein schweres Mahl zu genießen und dann zu Bett zu gehen. Das ist ein Leben, in welchem das körperliche Element nicht existiert und welches mit vollständigem körperlichen Ruin endigen wird.“

Sandows Rezept gegen den allgemeinen körperlichen und geistigen Niedergang schien einfach, aber wirkungsvoll: Durch systematische Körperübungen, bestehend aus Hantel- und Gewichtstraining, könne „die Welt eine gesündere Anschauung des körperlichen Lebens bekommen“ und ihre Anhänger „zur allgemeinen Vermehrung des Glückes und der Gesundheit“ gelangen. Durch die Anwendung des Sandow-Hantel-Systems werden innere und äußere Organe in Ordnung gehalten, „Kraft und Schönheit“ erzielt, der Wille gestärkt, das Selbstbewußtsein gehoben und „vollkommenere Typen von Mann und Frau heranwachsen, als es ihre Mütter und Väter gewesen sind“. Verbinde man sein System dazu noch mit gesunder fleischloser Ernährung, praktischer Hygiene, natürlicher Kleidung, hellen Wohnräumen, sauberer Luft und Entspannungsübungen, so entwickle man sich, so Sandow, zu einem perfekten, harmonischen Menschen.

Gesundheit, Glück, Selbstbewußtsein, Harmonie und ein „natürliches“ langes Leben in einem perfekten muskulösen und schönen Körper, das sind Sehnsüchte, die in der Industriegesellschaft – und besonders zu Krisenzeiten – schon immer geträumt wurden. Ihre Träumer kommen aus allen Richtungen und vertreten verschiedene Ansätze, ihr Ziel jedoch dürfte im wesentlichen das selbe sein. Mag man es heute vielleicht „Fitneß“ oder „Ganzheitlichkeit“ nennen, damals hieß es jedenfalls „Kraft und Schönheit“, und Eugen Sandow war ein typischer, aber auch der erfolgreichste und bekannteste Vertreter einer Fitneß- Bewegung, die zwischen 1900 und 1930 äußerst populär gewesen ist. Man könnte Sandow hinsichtlich Methode, Bekanntheitsgrad und Einfluß ohne weiteres als einen Schwarzenegger des Fin de siècle bezeichnen.

Angesichts einer Welt, die durch Industrialisierung, Krieg, politische Wirren, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit ins Wanken geraten war, die aber auch durch Umwertung und Aufhebung von Gesellschaftsnormen neue Möglichkeiten bot, zogen sich viele Menschen auf den Körper als einzigen gestaltbaren und positiv erlebbaren Bereich zurück. So blühte ein neuer Körperkult, der Gesundheit, Schönheit und Erfolg verhieß. Durch den eigenen muskulösen und nun vorzeigbaren Körper konnte jeder – zumindest für kurze Zeit – öffentlich Aufsehen erregen und womöglich sogar damit Geld verdienen.

Die Ausrichtung von Schönheits- und Muskelwettbewerben, die Organisation von Showauftritten und die öffentliche Demonstration von Kraftakten war ein fester Bestandteil damaliger Körperkultur und wurde von Bodybuildern, Ringern, Kraftakrobaten, Turnern, Gymnastikern, Lebensreformern, Freikörperkulturisten und in Kunstkreisen gleichermaßen betrieben. Jeder konnte sich und seinen Körper dabei zur Schau stellen, Preise gewinnen und auf ein Foto im nächsten Sportblatt oder in der nächsten Reformzeitschrift hoffen.

Neben vielen Profi- und Amateur-Bodybuildern war aber Eugen Sandow der erklärte Superstar, der alle Körpersehnsüchte bündelte und Frauen wie auch Männer in seinen Bann zog. Auf zahlreich verkauften Fotos warf er sich in dramatische Posen, sein Körper zierte Streichholzschachteln, und bei seinen Auftritten zeigte er sich entweder im Kampf mit Ringern oder Löwen, beim Gewichtheben oder ohne schmückendes Beiwerk einfach unter Einnahme klassischer Muskelposen. Nach seinen Auftritten ließ er die Muskeln seines bronzierten Oberkörpers gegen Geld betasten, ein Schachzug, der ihn zu einem der erotischsten Männer einer Zeit werden ließ, in der öffentliche Nacktheit gerade erst begann, sich allmählich durchzusetzen. 1901 richtete er in England einen ersten Muskelwettbewerb aus, dessen Gewinner die goldene „Sandow- Statue“ erhielt, die bis heute noch Trophäe der Mr. Olympia-Wettbewerbe ist.

Sandow beschritt damit eine schmale Gratwanderung zwischen Körperkult, Show und Vermarktung. Wie viele seiner Kollegen, aber weitaus erfolgreicher, gründete er „Fitneß-Studios“, verkaufte Trainingsanleitungen, eigens entworfene „Sandow-Griffhanteln“ sowie „Sandow-Symmetrion“-Widerstandsapparate und brachte seine Ideen über Körperkultur durch eigene Zeitschriften und Bücher unters Volk: „Die Erziehung“, so Sandow, „eines absolut vollkommenen Körpers, das ist Körperkultur. Die Schäden auszumerzen, für die die Zivilisation verantwortlich gewesen ist, das ist das Ziel der Körperkultur.“

Aber die Konkurrenz auf dem Fitneß-Markt war groß. Zwischen 1900 und 1930 dürften wohl über hundert Bodybuilding-Broschüren erschienen sein. Ihre Vermarktung wurde noch zusätzlich durch Heimtrainingsbücher anderer Richtungen, vor allem Gymnastik, Turnen und Yoga, erschwert, so daß erbittert um die Käufer gekämpft werden mußte. So wurden die Übungen der Konkurrenten verdammt und das eigene System als alleiniges Allheilmittel gepriesen. Selbst der erfolgreiche Sandow ärgerte sich über seine Gegner: „Sie sind neidisch auf den Erfolg, welcher die Jahre harter Arbeit und mühsamen Bestrebens begleitet, die ich durchmachen mußte, und halten mich für einen Gegner, zu dessen Schaden alles erlaubt ist.“

Die Käufer, teilweise recht ratlos angesichts der Fülle von Fitneß- Programmen, suchten sich entweder Hilfe in den Leserbriefecken der Bodybuilding- und Gesundheitszeitschriften oder vermengten in Selbstversuchen kurzerhand die verschiedenen Übungssysteme miteinander. Typisch der Leserbrief eines gewissen Albert V. in der Zeitschrift Die Lebenskunst im Jahre 1911 über sein Körperprogramm: „Ich möchte noch bemerken, daß ich mich nie an ein bestimmtes System gehalten habe, in der Hauptsache mich aber der Müller- und Sandow-Übungen befleißigte.“

Sandow aber setzte sein Fitneß- Programm weltweit durch. Ähnlich wie später Arnold Schwarzenegger bei Ex-Präsident Bush, wurde Sandow Fitneß-Berater des englischen Königs und trainierte die englische und australische Armee. Angesichts des Erfolges von Fitneß und Bodybuilding konnte Sandow nur positiv über die Zukunft der Menschheit spekulieren: „Es kann nur wenig Zweifel darüber herrschen, daß in kommenden Jahren die körperlichen Bedingungen, unter denen die Nationen leben, fast vollendet sein werden.“ Würde Sandow die gegenwärtige Lust und Last an Fitneß kennen, seine Visionen wären womöglich etwas zwiespältiger ausgefallen.