Ein Denkmal für die Täter

Am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben Polen Ukrainer und Ukrainer Polen / Doch zwischen Przemysl und Lemberg wird auch heute noch gekämpft  ■ Von Klaus Bachmann

Ein Gelände, wie geschaffen für Partisanen: dicht bewaldete Hügel, undurchdringliches Unterholz, kleine Bäche und ab und zu ein Gehöft. Wenige Kilometer vor dem Grenzübergang Rawa Ruska an der polnisch-ukrainischen Grenze führt ein schmaler Waldweg rechts ab. Kein Wegweiser verrät, daß hier die Abzweigung nach Mrzyglody ist, ein Dorf, das es eigentlich seit 1946 gar nicht mehr gibt. Damals wurde die ukrainische Bevölkerung Südostpolens von kommunistischen Truppen zwangsumgesiedelt, um antikommunistischen Partisanen ihren Rückhalt zu nehmen. Doch inzwischen, so geht das Gerücht, seien wieder viele der ukrainischen Bauern aus den ehemals deutschen Ostgebieten, aus Masuren, Pommern und Schlesien in ihre heimatlichen Wälder zurückgekehrt. Auch nach Mrzyglody, das offiziell nur eine große Waldlichtung ist, früher aber einmal mehrere hundert Höfe beherbergte.

Der Wald wird immer dichter, die Pfützen immer größer und der Morast immer tiefer. An manchen Stellen ist der Weg nur durch eingefahrene Traktorspuren zu erkennen. Plötzlich taucht hinter den Bäumen eine Lichtung auf, einige ärmliche Holzhäuser und Hütten. Eine Frau schleppt Wassereimer über den Lehmweg: Ja, das sei Mrzyglody. „Gehen Sie zu Machniw“, empfiehlt sie, „der lebt am längsten hier, der kennt die ganze Geschichte.“

Nestor Machniw sitzt mit seiner Frau und einem Verwandten von jenseits der Grenze an einem dunkelgrünen Kachelofen Marke Eigenbau bei einer Flasche ukrainischem Wodka, hausgemachter Sülze, einer schwartenmagenähnlichen Wurst und heißem Tee, den seine Frau immer wieder in dampfenden Gläsern aus der Küche hereinträgt. „Ich kann Ihnen alles erzählen“, bestätigt er, „aber Sie müssen mit uns trinken.“ Draußen wird es dunkler, die Wodkaflasche wird leerer und der Schwartenmagen weniger. Und dann erzählt Nestor Machniw in einem Gemisch aus ukrainischen und polnischen Brocken von den Zeiten, als Mrzyglody noch ein ukrainisches Dorf und er ein vierzehnjähriger Junge war. Bis dann am Ende des Krieges die Soldaten mit den Gewehren im Anschlag das Dorf umstellten und seine Familie nur wenige Stunden Zeit hatte, ihre Habe zu packen. Wie sie nach tagelangen Märschen schließlich in der Nähe von Stettin landeten, in einem heruntergekommenen Haus, aus dem die deutschen Besitzer vertrieben und deren Besitz geplündert worden waren: keine Fenster, keine Türen, nur die Mauern standen noch irgendwie.

Polens Armee hatte begonnen, den jahrzehntelangen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen in den von beiden beanspruchten Gebieten Galiziens und Wolhyniens ein gewaltsames Ende zu setzen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden Hunderttausende Ukrainer umgesiedelt. Wenn die Soldaten die Dörfer nicht selbst niederbrannten, taten es die Partisanen der „Ukrainischen Aufstandsarmee“, damit ukrainisches Hab und Gut nicht den polnischen Kommunisten in die Hände falle. „Hier brannte die ganze Gegend“, erinnert sich Machniw, „jedes einzelne Dorf.“ Die Klosterkirche von Monastyrz wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Mönche vertrieben, die Steine zum Straßenbau verwendet. Nestor Machniw kam als angeblicher ukrainischer Partisan für Jahre hinter Gitter. Haß gegen Polen hegt er keinen mehr: „Ich habe nur zwei Jahre Volksschule hinter mir. Meine Schule war das Gefängnis, und meine polnischen Mitgefangenen waren meine Lehrer.“ Er hebt sein Wodkaglas. „Daß kein Krieg mehr kommt“, lautet sein Trinkspruch, „und sich Polen und Ukrainer nicht mehr gegenseitig umbringen. Wir sind schließlich slawische Brüder.“

Der Weg nach Monastyrz ist am nächsten Tag naß vom Tau der Nacht. Vereinzelt hängen Nebelschleier über der Lichtung. Daß auf dem dicht bewaldeten Hügel einmal ein Kloster war, ist heute kaum noch zu erkennen. Die zusammengefallenen Mauern sind von Moos und Gebüsch überwuchert, einige Grabsteine sind umgestürzt. Hier war ein Friedhof für russische, österreichische und deutsche Gefallene des Ersten Weltkrieges, der von den Mönchen gepflegt wurde. Hinter den Grabsteinen steht ein provisorisches Eisenkreuz und ein halbfertiges Denkmal mit ukrainischer Aufschrift: „Hier ruhen 45 ukrainische Aufständische, die am 3.3. 1945 für die Freiheit und Unabhängigkeit Polens und der Ukraine gefallen sind. Umstellt von kommunistischen Truppen, kämpften sie bis zuletzt unerbittlich, wie es sich für Söhne der Ukraine geziemt.“

Der Anführer der Truppe hieß Jan Szymanski, Kampfname „Szum“, und polnische Zeitungen sagen ihm nach, er habe einige Kilometer weiter mit seiner Hundertschaft ein ganzes polnisches Dorf ausgerottet, bevor er von polnischen Truppen in den Klosterruinen umstellt und erschossen wurde. Zweifelsfrei bewiesen ist das nicht, doch für die örtliche Polizei hat es ausgereicht, die Arbeiten am Denkmal zu verbieten. „Wir haben alle zusammengelegt für das Denkmal“, hat Nestor Machniw noch am Abend geschimpft, „die Polen sollen die Finger von unseren Denkmälern lassen.“

Ein Bewohner der polnischen Nachbargemeinde Werchrata sieht das anders: „Wie kann man Leuten ein Denkmal hierherstellen, wenn ein paar Meter weiter die Gräber ihrer Opfer sind?“ Werchrata war vor dem Krieg mehrheitlich ukrainisch. Heute leben dort nur noch wenige Ukrainer, und auch die große, unverkennbar byzantinische Kirche des Ortes wird von einem polnischen römisch-katholischen Priester verwaltet. Doch auf dem Friedhof steht ebenfalls ein ukrainisches Denkmal, für Ukrainer, die 1944 von Polen ermordet wurden.

„Ob Szum ein polnisches Dorf niedergemetzelt hat oder nicht, ist ganz einerlei“, verkündet Jaroslaw Sydor, Chef der ukrainischen Minderheit in der Woiwodschaftsstadt Przemysl unverblümt, „jedes ukrainische Denkmal empfinden die Polen als Provokation. Und selbst wenn unsere Leute damals das Dorf niedergemetzelt haben, so hatten sie bestimmt einen Grund dafür.“ Und so steht einige Kilometer weiter ein großes Marmordenkmal für „die Helden der Ukrainischen Aufstandsarmee“. Sie kämpften 1944 dafür, daß Ostgalizien und Wolhynien zur Ukraine kämen, ebenso wie polnische Partisanen von der „Heimatarmee“ versuchten, diese Gebiete Polen anzuschließen.

Wer heute die Stadt am San betritt, der begegnet vor der Flußbrücke einer geradezu überdimensionalen, von einem polnischen Adler gekrönten Siegessäule, die jenem etwa anderthalb Dutzend abenteuerlustigen Schülern und Lehrlingen gewidmet ist, die nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Ukrainer der Stadt zogen, um Przemysl bei Polen zu halten. Auf die etwa 2.000 Mitglieder zählende ukrainische Minderheit der Stadt wirkt das Denkmal etwa so wie das in Monastyrz auf die Polen.

Dieser Effekt ist durchaus gewollt, denn eine Koalition aus polnischen Vertriebenenverbänden, Ukrainehassern und Rechtsparteien versucht auf diese Weise, Przemysl von den Spuren seiner Vergangenheit zu befreien. Und die war, so berichtet der Historiker Stanislaw Stepien, „polnisch, ukrainisch und jüdisch. Die Juden wurden von den Deutschen umgebracht, die Ukrainer von den Polen vertrieben und ausgesiedelt.“ Und Hunderttausende Polen flohen vor der Roten Armee und den Attacken ukrainischer Nationalisten aus Galizien und Wolhynien nach Westen – eine Vertreibung, die sie ebensowenig vergessen können wie die Ukrainer die ihre.

Nach der demokratischen Wende in Polen konnte die rechtsradikale Koalition das Przemysler Woiwodschaftsamt mit ihren Leuten besetzen, bis sie von der Regierung Suchocka in die Wüste geschickt wurde. Doch dann gewann die antiukrainische Liste die Kommunalwahlen und die Bauernpartei die Parlamentswahlen. Seitdem ziehen Bauernpartei, Rechtsradikale und polnische Vertriebenenverbände an einem Strick in Przemysl: staatliche und kommunale Gelder fließen in patriotische Denkmäler, Woiwodschaftsämter, Schulen und Schulaufsicht werden gesäubert und von nationalistischen Gefolgsleuten besetzt. Der Chef des Denkmalamtes soll unter dem Vorwurf gefeuert werden, er stecke zu viel Geld in ukrainische Kirchen. Ausgerechnet vor der ukrainischen Kathedrale von Przemysl will eine nationalistische Bürgerinitiative ein Denkmal für die „500.000 polnischen Opfer der ukrainischen Nationalisten“ während des Zweiten Weltkrieges errichten. Die Zahl übersteigt Schätzungen polnischer Historiker um das Acht- bis Zehnfache.

Doch in Przemysl geht es nicht mehr um Inhalte, sondern darum, Flagge zu zeigen. Und da macht auch die kleine ukrainische Minderheit keine Ausnahme, die durch das Entstehen der unabhängigen Ukraine ein neues Selbstbewußtsein bekommen hat. „Wir müssen uns nicht mehr alles gefallen lassen“, verkündet Jaroslaw Sydor, „hinter uns steht jetzt ein unabhängiger Staat, der uns schützt und sich für uns einsetzen kann.“ Auch auf andere Unterstützer ist Verlaß, sie ziehen mit den Fahnen ukrainischer nationalistischer Gruppierungen aus dem benachbarten Lemberg durch die Gegend und feiern in den ukrainischen Dörfern Ostpolens Gedenkmessen für die Kämpfer der Aufstandsarmee.

„Polnische und ukrainische Nationalisten brauchen sich gegenseitig“, urteilt Stanislaw Stepien, „anders könnten sie sich nicht so gut hochschaukeln und ihre Anhänger mobilisieren.“ Polnische Nationalisten besetzen eine ukrainische Kirche – ukrainische Nationalisten verhindern die Amtseinführung eines polnischen Bischofs. Polnische Nationalisten verhindern die Rückgabe einer Kirche an eine ukrainische Gemeinde – Lemberger Nationalisten blockieren die Rückgabe an Polen.

Der Konflikt in Przemysl spaltet Parteien, Kirchen und Familien, aber er ist längst kein lokaler mehr. In Przemysl und Lemberg wird große Politik gemacht, wo auch die Geheimdienste ihr Süppchen kochen. Polens Geheimdienst nimmt einen angeblichen ukrainischen Spion fest und – statt ihn still und leise auszutauschen – benutzt ihn für einen öffentlichen Schauprozeß. Es folgt ein Sturm im ukrainischen Blätterwald und die Verhaftung eines ebenso fragwürdigen polnischen Spions in der Ukraine. Polnische Staatsanwälte ermitteln gegen ukrainische Aufständische, die vor fünfzig Jahren polnische Dörfer niederbrannten. Gegen polnische Partisanen, die das umgekehrt auch ganz gut konnten, ermittelt niemand.

Glaubt man den offiziellen Deklarationen der Warschauer und Kiewer Außenpolitiker, so suchen beide Länder Zusammenarbeit und Partnerschaft. Doch an der Grenze herrscht eine andere Atmosphäre: Den Ukrainern gelten die Polen als anmaßende Herrenmenschen, die Ukrainer den Polen als unberechenbare Polenhasser. Auf den Dörfern streiten sich selbst die Pfarrer darüber, ob ein Ukrainer auf dem polnischen Friedhof beerdigt werden darf. „Bis sie wieder mit Messern aufeinander losgehen“, kommentiert das resigniert ein Bewohner von Werchrata, der den Krieg noch selbst erlebt hat.