An einem Tag wie jeder andere

Werder Bremen – Hamburger SV 1:4 / Nicht zum Hinsehen war das heimische Debakel des Ex-Tabellenführers im Nordderby  ■ Aus Bremen Markus Daschner

Der Tag fängt morgens mit einer langen Schlange beim Bäcker an. Jede Wette, daß der Laden leer ist, wenn man endlich seine Brötchen eingekauft hat. Der gleiche Tag endet abends im Stadion. Jede Wette, daß vor dir fünf baumlange Kerls stehen und kein anderer Platz mehr frei ist. Schön, wenn man in einer solchen Situation nicht allein ist. Der gute Freund, selbst seit Jahren das Leben aus der luftigen Höhe von 205 Zentimetern über Normalnull betrachtend, steht neben dir und hält dich auf dem laufenden. So in der 11. Minute des Spiels Werder Bremen gegen den Hamburger Sportverein im Weserstadion. Die fünf Kerls reißen plötzlich die Arme hoch und auch Freund Volker ist deutlich unruhiger. Insgesamt ist es dazu kurzfristig sehr laut geworden, und bohrende Fragen finden folgende Antwort: „Basler auf Scheibu, Paß in den freien Raum und Scheibu macht ihn rein!“

Scheibu ist in Bremen der zärtliche Kosename für den Russen Vladimir Bestschastnich, den man der hohen Anforderungen beim Aussprechen seines Namens wegen kurzerhand umgetauft hat. Aus gleichem Grund hatte das Bremer Fußballvolk vor Jahren schon den neuseeländischen Mittelstürmer Wynton Rufer zur „Kiwi“ transponiert. Der Hanseate hat die Welt eben gerne überschaubar. Das Tor war ein Auftakt zum Nordderby, wie ihn sich die Bremer nicht besser hätten wünschen können. Das erste Tor lag schon nach wenigen Minuten Angriffsfußball in der Luft. Sagt Volker, denn die fünf Schränke lassen keinen Blick aufs Spielfeld zu.

Für Werder Bremen war an diesem Abend das Problem, daß sie nicht die einzigen waren, die stürmten. Und das Problem wurde größer, als sich im weiteren Verlauf des Spiels herausstellte, daß der HSV nicht nur besser stürmen konnte, sondern gleichzeitig die Bremer auch schlechter verteidigen. Das lag nicht nur an den verletzten Strategen Beiersdorfer und dem Manndecker Borowka (sagt Volker). Die Hamburger haben an diesem Abend die Bremer Abwehr einfach umgerannt. Brillantes Kurzpaßspiel zelebrierte der HSV auf engstem Raum, dann wieder riß er mit weiten Pässen dicke Löcher in Bremens Abwehr. Das 1:1 fiel zum Erstaunen vieler auf den Rängen erst in der 29. Minute, und diesmal war die Aufklärung durch Volker knapp und kurz: „Letschkow!“

Die Intonation hatte etwas Bedrohliches im nichthörbaren Untertonbereich. Um unsere freundschaftliche Verbundenheit nicht unnötig zu belasten, recherchierte ich im unmittelbaren Umfeld, daß die Hamburger einen ordentlichen Wirbel mit den Bremern veranstaltet haben müssen. Das 1:2 durch den Hamburger Libero Houbtschew (38.) bewirkte immerhin, daß sich die fünf Hünen vor mir ein wenig zur Seite drehten und einen kurzen Blick freigaben auf den Pulk sich freuender Hamburger. Eine eher deprimierende Perspektive, wenn man in der Ostkurve steht. Das Ausharren trotz Überschreitens der Schmerzgrenze war an diesem Abend die höchste Tugend der Bremer Fans. Nicht einmal gepfiffen haben sie, auch nicht, als Andre Wiedener mit einem Eigentor den 1:3-Halbzeitstand herausschoß. Augenzeugen berichten, daß das Tor unnötig gewesen sei (was Volker in der Pause bestätigte).

Ein dynamisch anstoßender SV Werder kam aus der Halbzeit und hätte wenig später womöglich den Anschluß erzielen müssen. Allein Frank Neubarth scheiterte an Hamburgs altem Haudegen Uli Stein. „Den kannste bei Stein doch nich' schieben“, meinte Volker neben mir, sichtlich erregt. Eine raunende Menge gibt ihm recht. Der Hamburger hatte danach noch mehrmals Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen, was ich aber nur vom Hörensagen bestätigen kann. Also liegt Werder hinten und kriegt noch eins drauf. 1:4 durch Sergio Zarate (78.), der seine Bundesligaeinsätze in diesem Jahr bequem an zwei Fingern abzählen kann. An diesem Abend sollte jeder treffen können, wer sage da noch etwas gegen die Bremer Gastfreundschaft?

Was soll man von einem Tag halten, der mit einer Schlange beim Bäcker begann und gegen Abend in eine 1:4-Heimniederlage des SV Werder gegen den HSV mündet? Ein Tag, an dem die Grünweißen die Tabellenführung verlieren? An dem man in einem Stadion hinter fünf Schränken steht und nichts sieht? Ach, der gute Freund rettet die Situation: „Ich an deiner Stelle wäre froh, wenn ich das Elend nicht hätte ansehen müssen.“

Hamburger SV: Stein - Houbtschew - Bach, Schnoor - Fischer, Spörl, Hartmann, Letschkow (53. Kober), Albertz - Bäron, Ivanauskas (69. Zarate)

Zuschauer: 38.878; Tore: 1:0 Bestschastnich (11.), 1:1 Letschkow (29.), 1:2 Houbtschew (38.), 1:3 Wiedener (45./Eigentor), 1:4 Zarate (79.)

Werder Bremen: Reck - Ramzy (67. Rufer) - Votava, Schulz - Wolter, Basler, Eilts, Herzog, Wiedener (46. Neubarth) - Bestschastnich, Bode