Im Persilrausch der Wunderjahre

Der Architekt Egon Eiermann wird in der Berliner Akademie der Künste mit einer Retrospektive  ■ Von Rolf Lautenschläger

Ein Schlüssel zum Verständnis der Ideale von Egon Eiermann (1904 bis 1970) steckt in einer weißen Latzhose mit dazugehörigem Seidenhemd. Gleich zu Beginn der Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, die den Architekten der Nachkriegsmoderne mit einem Blick auf seine frühen Berliner Bauten sowie ausgewählte spätere Entwürfe ehrt, strahlen die praktischen Utensilien überlebensgroß von einer Fotowand.

Den Latz der selbst entworfenen Hose gliederte Eiermann in Fächer für Bleistifte, Kugelschreiber, Rechenschieber und Brille. Am Bund befinden sich Einsätze für die Taschenuhr, das Sacktuch und andere Notwendigkeiten. Die Hosenbeine wurden umgeschlagen, damit sich nichts daran verfängt. Und den Knöpfen sieht man an, daß sie fest sitzen und nicht beim ersten Zug abplatzen.

So praktisch, funktional und logisch, ohne Schnörkel, locker, leicht und witzig wie die Hose, so einfach und groß geschnitten erscheint auch das Hemd. Mit einer Rückenlänge von einem Meter ermöglichte es dem Träger gar den Verzicht auf Unterhosen, denn statt dieser konnten die Hemdzipfel kreuzweise um die Beine geschlungen werden.

Die Kollektion aus reinem irischen Leinen und Seide, die Egon Eiermann dem Textilhersteller Helmut Winkler ob ihrer Weite als Garant für „vergnügliches Essen und Trinken“ zur Produktion anbot, wurde ein Flop.

Mit der Vorführung der Hemd- Unterhose im Architekturhörsaal der Karlsruher Universität, an der Eiermann ab 1947 lehrte, landete er dagegen „einen Volltreffer“.

Das Sachliche und Funktionale, das Leichte und Einfache, die ökonomische, präzise Arbeit mit dem Raum und den modernen Baumaterialien gehören zu den Markenzeichen der Bauten des wohl „bundesrepublikanischsten“ Architekten.

Wann immer sich das Nachkriegsdeutschland in den 50er und 60er Jahren mit großen, innovativen Bauten nach innen und außen spiegelte, stets lieferte Eiermann Entwürfe dazu, in denen sich das Ideal der neuen Republik und der Geist sowohl einer offenen als auch bescheidenen Demokratie zu manifestieren suchte. Das Flirrende der im wirtschaftlichen Aufbruch befindlichen Gesellschaft und ihr Hang zur Modernität, zum Elan und Fortschrittsoptimismus formte Eiermann zu gläsernen Quadern aus Beton und Stahl, schiffsförmigen, ja dynamisch geformten Bürokästen und oktogonalen Figuren voller Transparenz und Klarheit, als seien sie im Persilrausch der Wirtschaftswunderjahre gebleicht worden.

Für die deutsche Botschaft in Washington etwa entwarf er ein kühles, schnittiges Kanzleigebäude (1958), dessen sechs treppenförmige verglaste Bürogeschosse sich wie ein sanft gestrandeter Ozeanriese an den Hang schmiegen. In Berlin konzipierte Eiermann – nach dem Wohnblock im Hansa-Viertel – die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (1961) aus stereometrischen Baukörpern, deren betongefaßte Glasbausteine die Kirche nachts in einen blauen Kristall verwandeln, der die Ruine durch das künstliche Licht in einen Artefakt aus der Vergangenheit verfremdet.

Zur wegweisenden Planung für die sogenannte Nachkriegsmoderne aber avancierten die Ausstellungsgebäude der Bundesrepublik Deutschland, die Eiermann für die Brüsseler Weltausstellung 1958 entwarf. Gemeinsam mit Sep Ruf baute er acht quadratische Pavillons aus Stahl- und Glasbauelementen, die über ihren zurückgenommenen Sockeln zu schweben schienen. Die Gesamtanlage um einen begrünten Hof war durch gedeckte, aber offene Stege miteinander verbunden.

Zweifellos schlägt die Weltausstellungsarchitektur Eiermanns eine Brücke zu den kristallinen Architekturphantasien der zwanziger Jahre von Bruno Taut, Wassiliy Luckhardt, Paul Scheerbart oder Ludwig Mies van der Rohe. Doch während die baulichen Chiffren der Avantgarde, die in sich die Hoffnung auf eine „andere Zeit“ trugen, Visionen auf dem Papier blieben, die vom düsteren Pathos des faschistischen Neoklassizismus überrollt wurden, versuchte die radikal klare Gestaltung der Ruf-Eiermann-Häuser sehr schnell diese Vergangenheit vergessen zu machen und wieder an die Utopien der Moderne anzuknüpfen. In ihnen verdichtete sich „ein neuer, ja heiterer Ton“, so Eiermann. Zugleich aber repräsentierten seine Bauten die Aura energiegeladener Tüchtigkeit, die sich Gefühle und Erinnerungen nicht leistet – ein typisch deutscher Wesenszug speziell in jener arbeitswütigen Adenauerära. „Bauen in unserer Zeit“, schrieb Eiermann in einem Brief an Josef Neckermann, „bedeutet, mit Hilfe wissenschaftlich- technischer und ökonomischer Analysen Ordnungen zu setzen und neue Formen zu bilden. Wir werden erkennen, daß in diesen Ordnungen die Logik, die Reinheit und mit anderen Worten, der ethische Begriff der Wahrheit die entscheidende Rolle spielen. Wahrheit ist ein Bestandteil des Schönen, die Voraussetzung des Künstlerischen.“

„Ordnung“ und „Klarheit“, „Wahrheit“ und „Offenheit“ – Lieblingsbegriffe Eiermanns – schlugen sich am Bau nicht nur nieder in glatten, eckigen Formen, gegliederten Kuben und präziser Maßstäblichkeit, Glasfassaden, Stahlkonstruktionen und offenen Räumen.

Eiermann räumte seine Gebäude förmlich aus: Bei dem Verwaltungsbau für den Neckermann- Versand in Frankfurt/Main (1958 bis 1961) legte der Architekt das Innenleben des Baus nach draußen. Treppenhäuser, Aufzüge und Nebenräume sind – natürlich aus funktionalen Gründen – dem Hauptbaukörper vorgelagert und über gläserne Brücken verbunden.

In Kontakt mit der Moderne kam der Poelzig-Schüler Eiermann in den 20er und 30er Jahren in Berlin. Sein expressiver Entwurf für einen neuen Justizpalast in Berlin (1930), das Umspannwerk in Steglitz (1929) oder die spartanischen Eigenheimtypen zeigen ihn als Musterschüler der Architekturströmungen jener Zeit. Im Unterschied zu den Vorbildern des Neuen Bauens wie Walter Gropius, Erich Mendelsohn oder Ludwig Mies van der Rohe verließ Eiermann nicht das Nazi-Reich, sondern hielt sich mit Privataufträgen und Industriebauten über Wasser.

Eiermanns moderne Architektursprache wuchs in jenen Jahren kontinuierlich: Vom Entwurf für ein Minimalhaus (1932) über Techniken der Typisierung (1932) probte er zugleich bei seinen Berliner Aufträgen mit Materialien wie Ziegel, Stahl und Beton. Akzente seiner späteren „Handschrift“ für das Offene und Leichte, freie Grundrisse, additive funktional angeordnete Baukörper und gestaffelte skulpturale Volumen zeigen die Einfamilienhäuser Wohnhaus Bolle (1934 bis 1936) oder das Wohnhaus Vollberg (1938).

Die Traditionen der klassischen Moderne und die Kontinuität des Neuen Bauens, die Eiermann von den Anfängen über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik bewahrte und erneuerte, gelten heute, in der Debatte um die berlinische Architektur, den preußischen Stil oder die monumentalen steinernen Fassaden kaum mehr etwas. Aber an den Vorhaltungen des Unstädtischen, Funktionalen und Kalten ist Eiermann selbst nicht schuldlos.

Seine späten Entwürfe, etwa die für das Bonner Abgeordnetenhaus „Langer Eugen“ (1965 bis 1969) oder jene für die auf den Kopf gestellten Türme des Olivetti-Verwaltungszentrums in Frankfurt/ Niederrad (1968) lassen wenig von dem innovativen Geist oder der spielerisch technischen Leichtigkeit und Klarheit seiner übrigen Bauten spüren. Eher sind sie Ausdruck jenes Bauwirtschaftsfunktionalismus, der der modernen Architektur selbst das Leben aushauchte.

Doch noch in diesem Punkt gab sich Eiermann praktisch: „Für ihn paßte zu der nomadenhaften Mobilität unserer Epoche keine ewige Architektur“, charakterisierte einmal Klaus Lackheit die Bauphilosophie Eiermanns, „er sah selbst bei seinen eigenen Werken den Abbruch voraus.“

„Egon Eiermann – Frühe Bauten und Entwürfe“, bis 30. November.

Di-So 10-19 Uhr, Mo. 10-13 Uhr im Foyer der Akademie der Künste, Hanseatenweg, 10557 Berlin Tiergarten, Tel. 390 00 70