War Schweizer Sektendrama Massenmord?

■ Drei weitere Leichen in Kanada gefunden / Haftbefehl gegen den Sektenführer erlassen / Indizien weisen auf Massenerschießung der Sektenmitglieder hin

Genf/Ottawa (dpa/taz) – Die Zahl der Todesopfer im schweizerisch-kanadischen Sektendrama hat sich auf 53 erhöht. In Morin Heights, nördlich von Montreal, wurden gestern im Haus des Sektenführers Luc Jouret die Leichen eines Babys, einer Frau und eines Mannes aufgefunden. Alle drei wiesen Stichwunden auf. Bei den Toten handelt es sich um eine Engländerin, einen Schweizer und ihr Kind. Bereits am Dienstag waren in diesem Haus zwei stark verkohlte Leichen entdeckt worden, die noch nicht identifiziert sind.

In der Schweiz, wo am Mittwoch in den Kantonen Fribourg und Wallis insgesamt 48 Leichen aufgefunden worden waren, mehren sich die Hinweise, daß Massenmord vorliegen könnte. Untersuchungen haben ergeben, daß 20 der 23 Leichen Schußwunden aufweisen. Die Waffe, aus der die Schüsse abgegeben wurden, sei aber bisher nicht aufgetaucht. Außerdem seien die Sektenmitglieder vor ihrem Tod mit einem starken Mittel betäubt worden. Nach Angaben von Experten zersetzten sich die Leichen sehr rasch, was auf Gift oder andere Drogen im Körper hinweise.

Der Walliser Untersuchungsrichter Jean-Pascal Jacquemet bestätigte gestern, daß Jouret und ein anderer führender Kopf der Sonnentempler-Sekte, der 70 Jahre alte Frankokanadier Joseph di Mambro, am Dienstag nachmittag am Tatort gesehen wurden. Sie hatten einen Schlosser gebeten, eines der drei Chalets zu öffnen, die in der Nacht zum Mittwoch niederbrannten. Inzwischen haben die Fribourger Behörden die beiden Sektenführer zur Festname ausgeschrieben. Es ist noch nicht geklärt, ob sie unter den Toten sind.

Di Mambro wird in Presseberichten inzwischen als der Finanzchef und eigentliches „Gehirn“ der Sekte bezeichnet. Er habe die Spitznamen „der kleine Napoleon“ und „Diktator“ getragen. Seiner Frau Jocelyne gehörten zwei der drei Chalets in Granges.

Von Albert Giacobino, einem 70jährigen Genfer, dessen Leiche einen Kopfschuß aufwies, heißt es, er habe von Jouret und di Mambro Geld zurückgefordert, das er der Sekte gegeben habe. Der Orden sei dadurch in große Finanznöte geraten. Mehrere frühere Sektenmitglieder haben offenbar aus Angst vor Repressalien inzwischen Polizeischutz beantragt. Angehörige von bereits identifizierten Toten und auch einige ehemalige Anhänger Jourets sind überzeugt, daß kein kollektiver Selbstmord vorliegt.

Nach Aussagen des Schweizer Sektenexperten Georg Schmid bildet die Schweiz einen „idealen Nährboden“ für Sekten. Der verbreitete Wohlstand und die „kleinkarierte Tüchtigkeit“ vieler Eidgenossen machten die Schweiz für viele Jugendliche zum Gefängnis. Sie suchten dann einen Ausweg im Drogenkonsum oder bei Sekten. Außerdem beschuldigte der Theologe die Kirchen, sie böten den Menschen „zuwenig Alternativen“. hus