„Manchmal liegt sie wieder vor mir“

Besuch im Knast bei einem rechtsradikalen Malerlehrling, der vor zwei Jahren mit einer Zaunlatte eine Aushilfskellnerin erschlagen hat, die sich ihm vor einer Disco friedlich in den Weg stellte  ■ Von Annette Rogalla

Der Realitätsverlust kommt schubweise. Dann weiß André* nicht mehr, ob es ihm gut oder schlecht geht. Irgendwie deprimiert fühlt er sich – und ganz plötzlich wieder ziemlich gut drauf. In schlechten Zeiten kriegt er kaum was mit vom Leben. Marionettenhaft trottet er durch den Tag. „Aufstehen um sechs, über den Gang zum Duschen, eine Treppe tiefer in der Küche Brot und Butter holen, um sieben ausrücken zur Arbeit, Mittagessen um zwölf, Arbeitsende um viertel vor vier. Einrücken in die Zelle.“

In guten Zeiten macht ihm das frühe Aufstehen nichts aus, da freut sich der Malerlehrling, die grau gewordenen Wände im Speiseraum der Jugendstrafanstalt weiß zu tünchen. So vergeht Tag für Tag. Es gibt Abende, da zerrt die Monotonie an den Nerven. Der Anstaltskoller droht. Da spürt er sich nicht mehr. Liest er einen Krimi, versteht er nicht, was da steht.

Wenn Wut und Zorn über das reglementierte Leben an ihm nagen, bleibt ihm nur sein schmales Bett als Rückzugsort. „Stundenlang sitze ich da und sage mir: Es vergeht.“ An guten Tagen reicht es nach der Arbeit für eine Runde Skat mit den beiden Zellengenossen oder für einen Brief an die Oma. Winzige Erfolge, den Knastkreislauf zu überlisten.

Seit zwei Jahren sitzt André ein. Dreizehn Monate davon verbrachte er im Untersuchungsgefängnis Dresden, jetzt ist er in einem bayerischen Jugendknast. André hat eine Frau erschlagen.

In der Nacht des 10. Oktober 1992 drischt er mit einer Latte auf Waltraut Scheffler, 43, ein. Die Aushilfsserviererin kommt nicht wieder zu Bewußtsein, sie stirbt 14 Tage später.

An jenem Samstag abend vor zwei Jahren bechert André mit Freunden in der Disco von Nardt, einem Ort in der Nähe von Hoyerswerda. Gegen elf Uhr tritt Thorsten, der Fenstermonteur, in die Kneipe, zeigt seinen zerrissenen Pullover vor. Ein Wessi war's, drüben in der „Grubenlampe“, im Nachbarort Geierswalde. Die Kumpels verstehen, klare Sache. Fünfzehn Kurzrasierte stolpern in die Trabis und fahren nach Geierswalde. Gegenüber der Disco, am Friedhofszaun, sammeln sie sich: „Sieg Heil, Ausländer raus“, brüllen sie. Vom Eingang der Gaststätte buht es zurück.

Das Startzeichen. André reißt sich eine Latte vom Friedhofszaun, hält sie fest mit beiden Händen. Jedem, der ihm zu nahe kommt, zieht er eins über. „Beruhig' Dich“, redet Waltraut Scheffler, die Aushilfskellnerin auf ihn ein, „schmeiß' die Latte weg.“ Knapp einen Meter steht die beherzte Frau vor dem lattenschwingenden Glatzkopf. „Schmeiß' das Ding weg.“

„Hau' ab, du Schlampe!“

„Ich könnt' Deine Mutter sein.“

André holt zum Schlag aus. Mit großer Wucht trifft die Latte Waltraud Scheffler an der Schläfe.

Ein Jahr nach der Tat verurteilt das Jugendschöffengericht Bautzen André wegen schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung mit Todesfolge und Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen zu viereinhalb Jahren Haft. Ausreichend Zeit, heißt es im Urteil, sich mit der Tat auseinanderzusetzen.

Im Westgefängnis soll er resozialisiert werden. Von außen ein tadelloser Bau, weißgestrichener Waschbeton und freundliches Holz. Die Gefangenenhäuser gruppieren sich doppelstöckig um eine Gartenanlage, die jedes Titelblatt einer Gärtnerzeitschrift schmücken könnte. Die Sonne lugt durch das Gitterfenster und tupft Schatten ins Gesicht des Aufsichtsbeamten hinter André. Was, außer einem streng geregelten Arbeitstag umgibt ihn hier? „Zuerst kommt die Arbeit, dann noch einmal pünktliche Arbeit.“ Arbeit ist das halbe Leben – aber was kommt danach? „Hofgang, von halb fünf bis halb sechs.“ Kreise drehen, Zigaretten rauchen, Vögeln zuhören, Witze reißen mit andern Gefangenen, oder sich gegenseitig ein bißchen triezen. „So richtig geprügelt wird nicht, da passen die Wärter schon auf.“ Abendessen. „Danach kann, wer will, zu seinen Neigungsgruppen gehen.“ Volleyball spielen, Gewichte stemmen, Fußball spielen. André geht in die Tischtennisgruppe.

Die Gefangenen sind in Wohngruppen zusammengelegt. Die Bewohner von drei Zellen teilen sich Teeküche und Dusche. Das sei liberaler Strafvollzug, sagt der Leiter der Anstalt. Am Abend hört die Liberalität allerdings auf. Dienstags und donnerstags sperren die Schließer die jungen Männer bereits um 18 Uhr in die Zellen. Sonntags schon um 16 Uhr. An den übrigen Tagen dürfen sie sich bis 21 Uhr besuchen. Dann hockt André mit anderen vor der Glotze und sieht sich Fernsehfilme an, die die Betreuer aufgezeichnet haben. Krimis sind der Renner.

Was passiert sonst noch? André macht ein fragendes Gesicht. „Was ist, wenn's dir schlecht geht?“ „Natürlich kann ich mich bei einem Sozialarbeiter oder einem Psychologen ausquatschen.“ Innerhalb der Dienstzeiten.

Vor einem halben Jahr, als er aus dem Knast in Sachsen hierher verlegt wurde, hat er einmal mit einem Psychologen gesprochen. Nach seiner Tat hat er ihn nicht gefragt. Darüber spricht er auch nicht mit seinen Zellengenossen, von denen der eine wegen Mord sitzt, der andere wegen schwerer Körperverletzung.

Denkt André manchmal an seine eigene Tat? Er unterbricht das Schokoladeessen. Sein Oberkörper erstarrt, seine Brauen stülpen sich über die tiefliegenden Augen, wehmütig zieht sich der Mund zusammen. „Manchmal monatelang nicht. Manchmal liegt sie plötzlich wieder vor mir. Ich sehe das Blut, das aus ihrem Kopf tropft. Ich sehe, wie ich mit meinen Kumpels im Auto sitze und der Krankenwagen mir entgegenkommt. ,Mensch, die ist tot‘, sagt Thorsten. ,Haste gesehen, wie die geblutet hat? Die muß tot sein.‘ Ich weiß, daß sie sterben wird. Als wir wieder in der ,Grubenlampe‘ ankommen, wissen alle Bescheid. Achim, der Kneiper, stellt mir einen Chantré hin und sagt: ,Wat haste bloß wieder angestellt?‘ Mit einem Mal höre ich den Bullenwagen. Ich trinke den Schnaps aus. Verpiß' mich durch den Hinterausgang. Fahr' mit dem Moped nach Hause und leg' mich schlafen. Als meine Mutter morgens ins Zimmer kommt, sagt sie: ,Bah, was stinkt das wieder.‘ Sie reißt das Fenster auf: ,Steh auf, die Polizei ist da.‘“ Widerspruchslos läßt André sich abführen, er leugnet nichts.

Vor Gericht tat er sich schwer mit dem Sprechen. Kein Wort des Bedauerns für die tote Waldtraut Scheffler ist ihm über die Lippen gekommen. Ebensowenig seinen Freunden, kurzgeschoren wie er und in ebenso einschlägiger Bekleidung. Allesamt lieferten die Rechten eine abgesprochene Version der Tat. Niemand entschuldigte sich.

Daß Waldtraut Schefflers Mann als Zuhörer im Gerichtssasal saß, will André nicht gewußt haben. Würde er ihm heute etwas sagen? „Ich habe daran gedacht, ihm einen Brief zu schreiben.“ André macht eine Pause. Rutscht seitwärts fast vom Stuhl, als wollte er aufstehen. Die Lippen fest aufeinandergepreßt, läßt er die Schultern sacken. Er kramt die Wörter einzeln aus dem hängenden Kopf. „Wie soll so ein Brief schon aussehen?“ Er macht eine Pause. „Hallo, Herr Sowieso. Bla, bla, bla.“ Pause. „Bla, bla, bla. Tut mir leid.“ Pause. Die Augen sind geschlossen, der Mund steht offen, er sagt nichts. Schluchzt er?

Wie oft hat er in Gedanken so einen Brief angefangen? „Oft.“ Schämt er sich, ihn nie geschrieben zu haben? Er hält die Luft an, als wolle er etwas zurückhalten. „Überhaupt, was würde ein Brief nützen?“ Unvermittelt heftig kommt das hervor. Er rollt sich in seinen breiten Oberkörper ein. „Ich glaube, meine Oma hat denen geschrieben.“ Er lächelt ein wenig. Die Oma. Er strahlt. Oft hat sie ihm schon Ärger vom Leib gehalten.

Bis in den Knast jedoch reicht ihre Fürsorge nicht. Hier soll er lernen, „ohne Einsatz von Gewalt Konflikte zu lösen“. Dies bedürfe, so sagte in der Hauptverhandlung der Staatsanwalt, „der längeren erzieherischen Einwirkung“. Zwei von viereinhalb Jahren Strafe hat André verbüßt. Das einzige, was er bislang notgedrungen verlernt hat, ist das Feierabendsaufen am Wochenende. Ein rigides Leben nach der Uhr führte er bereits zuvor von Montag bis Freitag als Malerlehrling in Hoyerswerda.

Für seine Gewaltausbrüche von damals macht er ausschließlich seine Schwäche für Alkohol verantwortlich. „Das läßt sich bestimmt mit weniger Bier in den Griff kriegen.“ Daß er mit seiner Gewalt brutal Macht ausüben wollte, ist ihm bewußt geworden. „Wenn wir ,Sieg Heil!‘ brüllten, haben die anderen gezittert. Das war schön.“ Aber schließlich seien die Naziparolen doch nur sowas wie Art Sauflieder gewesen, nicht weiter ernst zu nehmen.

Zum Zeichen seiner Läuterung krempelt er den Hemdsärmel hoch. In rundlichen Buchstaben ist da der Name der rechtsradikalen Skinband „Noie Werte“ eintätowiert. Darunter das Keltenkreuz. Das habe er sich während seiner Untersuchungshaft einritzen lassen. Um seinen Freunden zu zeigen, daß er weiter zu ihnen gehört. Jetzt reibt er sich jeden Abend Salz mit einem nassen Handtuch darüber. Das ätze die Tätowierungen nach und nach weg. Sind das nicht heftige Qualen, Salz in eine offene Wunde zu reiben? André lacht. „Eh“, wehrt er stolz ab, „das mag ja sein, daß es anderen weh tut. Was kann ich dafür, daß es bei mir nicht so ist.“

Wenn er den Oberarm ganz frei geätzt hat, dann will er etwas wirklich Großes darauf tätowieren lassen. „Vierfarbig und in einem richtigen Studio.“ Was könnte es werden? „Viele geile Totenschädel!“

*Name von der Redaktion geändert