Rätseln über Cardosos politischen Kurs

Nach den brasilianischen Wahlen ist die Opposition gestärkt / Erstmals Frauen im Senat / Der neue Staatschef Cardoso läßt seine neoliberalen Unterstützer etwas erbleichen  ■ Aus Rio Astrid Prange

Brasiliens Arbeiterpartei PT geht gestärkt aus den allgemeinen Wahlen vom vergangenen Montag hervor – obwohl ihr Präsidentschaftskandidat Luis Inacio Lula da Silva besiegt wurde. Wenn die bisherigen Hochrechnungen stimmen, wird sich die Zahl der PT-Abgeordneten im brasilianischen Kongreß verdreifachen. Außerdem ist es der brasilianischen Linken erstmals gelungen, bei den Gouverneurswahlen drei chancenreiche Kandidaten in die Stichwahl am 15. November zu bringen.

Während sich Brasiliens neues Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso daranmacht, eine Regierung für seine Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen zu bilden, heißt es jetzt bei der brasilianischen Arbeiterpartei: scharfe Selbstkritik und Vorbereitung auf die Oppositionsrolle. „Die PT ist durch die Wahlen zur wichtigsten Linkspartei Lateinamerikas aufgestiegen“, tröstet sich Lula über seine Niederlage hinweg. Er werde darauf drängen, daß Brasiliens neuer Präsident seine Wahlversprechen einhalte: „Ich drücke Cardoso die Daumen, daß er die Millionen von Arbeitsplätzen schafft, die Kinder in die Schule schickt und 400.000 Landlose mit Grund und Boden versorgt“, erklärte der 49jährige Gewerkschaftsführer.

Für den dazu nötigen Druck von unten sollen insbesondere die fünf SenatorInnen sowie rund 70 Parlamentsabgeordneten der PT sorgen. Die Wäscherin Benedita da Silva aus Rio de Janeiro, zuletzt PT-Abgeordnete im Parlament, zieht nun als erste schwarze Frau in Brasiliens Senat ein. Die PT-Landtagsabgeordnete Marina Silva aus dem Amazonasbundesland Acre ist die erste Gummizapferin, die sich ein achtjähriges Mandat in Brasiliens Senat erobert hat. Bis jetzt handelte es sich beim brasilianischen Senat um eine reine Männergesellschaft, in der kommenden Legislaturperiode werden erstmals 5 der 81 Mandate von Frauen ausgeübt.

Auch im Parlament hat die linke Fraktion dazugewonnen: Laut bisherigen Hochrechnungen wird die Arbeiterpartei die Zahl ihrer Abgeordneten von 36 auf über 70 Volksvertreter steigern. Zusammen mit anderen Linksparteien wird schätzungsweise ein Drittel der 513 Parlamentarier dem linken Parteispektrum angehören.

Mit dem Schriftsteller Fernando Gabeira zieht erstmals ein Vertreter der brasilianischen Grünen ins Parlament ein. Jüngster Volksvertreter ist der Abgeordnete der kommunistischen Partei Brasiliens (PC do B) Lindberg Farias. Der 24jährige mobiliserte vor zwei Jahren brasilianische Schüler und Studenten für die Amtsenthebung von Brasiliens Ex-Präsident Fernando Collor. Collor war das erste Staatsoberhaupt Lateinamerikas, das wegen Korruption zurücktreten mußte.

„Die Konservativen unterschätzt“

„Im Wettbewerb mit dem Sozialdemokraten Cardoso muß die PT eine konstruktive Opposition betreiben“, warnt der ehemalige Untergrundkämpfer José Genoino, der für die Arbeiterpartei erneut ins Parlament gewählt wurde. „Nach dem Impeachment Collors haben wir an einen leichten Sieg geglaubt. Wir haben die Verhandlungsfähigkeiten der Konservativen unterschätzt“, räumt er selbstkritisch ein.

PT-Chef Lula betrachtet den Triumph seines politischen Gegenspielers Cardoso in erster Linie als einen Sieg der „harten Währung“. Den Erfolg seines Anti-Inflations- Programms habe nicht einmal Cardoso selbst vorhersehen können, meint Lula in der Tageszeitung Folha de São Paulo und bekennt: „Wir konnten keine Alternative zur Währungsreform vorweisen.“ Cardosos Währungsreform im vergangenen Juli bescherte den inflationsgeplagten Brasilianern erstmals das Gefühl, eine „harte Währung“ zu besitzen. Die restriktive Geldpolitik sowie die hohen Zinsen zur Bekämpfung der Inflation führten zu einer Überbewertung der neuen brasilianischen Währung Real, die innerhalb Brasiliens mehr wert ist als ein US-Dollar. „Der Anfangserfolg hat den Brasilianern ihren Optimismus wiedergegeben“, meint der Versicherungsexperte Gary Schienemann. Doch für den langfristigen Erfolg des Inflationsprogramms sei sowohl eine Steuerreform als auch ein Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden notwendig.

Die Erleichterung in der brasilianischen Wirtschaft über den Wahlsieg Cardosos paart sich mit einer gewissen Skepsis: Nach dem ersten öffentlichen Auftritt des siegreichen Präsidentschaftskandidaten fielen am vergangenen Freitag die Börsenkurse in Rio de Janeiro und São Paulo. Der 63jährige Cardoso enttäuschte die Erwartungen der Anhänger des in Lateinamerika weit verbreiteten Neoliberalismus: „Ich bin Sozialdemokrat“, erklärte er vor der nationalen und internationalen Presse. „Die Idee, daß sich der Staat aus allem raushalten muß, ist realitätsfern.“