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Bauordnung behindert Behinderte

■ Behinderten-Verbände weisen neue Landesbauordnung als „völlig unbefriedigend“ zurück

Eva-Maria Lemke-Schulte, Senatorin für das Bauwesen, und ihr Ressort waren fleißig. Schon seit Monaten liegt der knapp 170 Seiten umfassende Entwurf für die neue Landesbauordnung vor. Seite für Seite, Paragraph für Paragraph enthält der Packen Papier die rechtlichen Anforderungen für Bauherren. Egal ob Gewoba oder privater Häuslebauer, an der novellierten Landesbauordnung kommt in Zukunft keiner vorbei.

„Der Entwurf ist völlig unbefriedigend“, weist Doris Galda, Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“ (LAGH), das Machwerk zurück. „Statt allgemeine Anforderungen verpflichtend und sanktionierbar vorzuschreiben, verweist der Entwurf auf –bauliche Maßnahmen für besondere Personengruppen–“, moniert Galda. Auf Behinderte werde überhaupt nicht eingegangen. Lediglich auf „einer halben von 164 Seiten“ werden „Menschen mit Beeinträchtigungen“ abgehandelt, sagt Matthias Weinert von der LAGH.

Weinert hat sich deshalb durch den Paragraphen-Dschungel gekämpft und eine umfangreiche Stellungnahme zur neuen Bauordnung abgegeben. „Menschen mit Beeinträchtigungen, gleich welcher Art, werden ja erst durch die Umwelt behindert“, meint Weinert. Daher solle besonders darauf geachtet werden, daß sie „bauliche Anlagen ohne fremde Hilfe nutzen können“. Weinert fordert, daß Erdgeschosse barrierefrei erbaut und umgebaut werden. Behinderte können Stufen, Treppen, Schwellen und enge Durchgänge überhaupt nicht oder nur schwer überwinden. Gebäude mit mehr als vier Wohnungen sollen dehalb auch ein Geschoß haben, auf dem die Wohnungen völlig ohne Barrieren sind. „Ob ich eine Türzarge mit oder ohne Schwelle baue, kostet doch dasselbe“, meint Weinert. Der Entwurf der Baubehörde sieht barrierefreie Wohnungen erst ab zehn Wohnungen pro Haus vor. Da in Bremen traditionell kleinere Häuser gebaut werden, sei dieser Vorschlag unzureichend.

„Das ist der Zielkonflikt“, meint Peter Noltenius, Abteilungsleiter der Rechtsabteilung im Bauressort. Wenn noch mehr Bauvorschriften in der Verordnung stünden, würden ihm die Verbände der Bauwirtschaft und der Architekten auf–s Dach steigen. „Die werfen uns vor, daß die Verordnungen zu detailliert sind und Bauen deswegen so teuer ist“, sagt Noltenius. Immerhin räumt er ein, daß „eine halbe Seite wenig ist“. Außerdem habe die Behörde die Formulierungen bewußt vage gehalten. Es gebe soviele Arten von Behinderungen, die könne man nicht alle in der Bauordnung aufnehmen. „Je größer die Gruppe, die wir erfassen, desto besser“, assistiert Referatsleiter Viering.

Noch ist ja auch nicht aller Tage Abend. Bis zum 30. Oktober können über 100 Organisationen „Anregungen und Bedenken“ einreichen. Die werden im Bauressort bis Januar 1995 angeguckt und geprüft, dann der zuständigen Arbeitsgruppe, dem Deputationsausschuß und schließlich der Bürgerschaft vorgelegt. „Bislang gibt es überhaupt keine Richtwerte für behindertengerechtes Bauen“, weiß Christine Dose, Pressesprecherin der Gewoba. Die Gewoba „ergänzt die Quartiere bedarfsmäßig“. Wo viele Alte leben, werden eben mehr behindertenfreundliche Wohnungen gebaut.fok

Der gute Wille der Gewoba nützt den in Bremen beeinträchtigt Lebenden auf dem nächsten Freimarkt nichts. Die fliegenden Bauten wie Zelte und Wandertoiletten werden auch in diesem Jahr für sie nicht barrierefrei sein. fok

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