Verarmung im Konsumrausch

Ungarn lebt über seine Verhältnisse, sagt Finanzminister Békesi / Die Zahlen geben ihm recht, doch keiner will seiner Rezeptur folgen  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Ungarns Metropole Budapest macht den Eindruck, als sei sie die Haupstadt eines aufstrebenden Landes. Viele neue westliche Limousinen verstopfen Tag für Tag die Straßen. Überall eröffnen immer teurere Boutiquen und Autosalons, Cafés und Pubs verdrängen die letzten altmodischen Konsum- und „Trafik“-Läden, deren Besitzer Zigaretten und billigen Krimskrams verkaufen. Graue Fassaden, hinter denen sich kommunistische Behörden für die Ewigkeit verschanzt hatten, verschwinden, Banken und Versicherungsgesellschaften lassen Bürotürme aus Glas und Stahl errichten.

Die Zeitungen des Landes hingegen vermitteln dem Leser das Gefühl, Ungarn verarme und stehe vor einer wirtschaftlichen Katastrophe. Seit einigen Monaten vermelden sie fast täglich Hiobsbotschaften: „Harte Einschränkungen unvermeidlich“, „Neue Massenentlassungen zu erwarten“, „Nächstes Jahr 150.000 Arbeitslose mehr?“, „Schon wieder Preiserhöhungen“. Die meisten Menschen klagen so sehr angesichts zu erwartender Lasten, daß sich der Beobachter fragt, wer eigentlich die Käufer teurer Kleider und Neuwagen und die zahllosen Kunden gastronomischer Einrichtungen sind.

Der Finanzminister László Békesi der seit Mitte Juli amtierenden Regierung aus Sozialisten und liberalen Freidemokraten hat eine Erklärung dafür. Das Land lebe über seine Verhältnisse, die Ungarn verbrauchten 10 Prozent mehr als sie produzierten, wird er nicht müde zu warnen. Dabei sind vor allem die eine Million Angestellten im aufgeblähten öffentlichen Sektor, die fast ein Viertel aller Beschäftigten ausmachen, eine kaum zumutbare Belastung für den ungarischen Staatshaushalt. In dem wiederum fehlen Gelder nicht zuletzt deshalb, weil Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung weitverbreitete Praktiken sind oder viele defizitäre Unternehmen seit Jahren keine Steuern mehr bezahlen.

Auf diesem Hintergrund sieht Békesi auch das leichte Wirtschaftswachstum in diesem Jahr: Es sei künstlich, nämlich mit zu hohen Haushaltsausgaben finanziert. In einem Jahr jedoch, prophezeit Békesi, werde Ungarn absolut zahlungsunfähig sein. Die Zahlen sprechen dafür. Ein Zahlungsbilanzdefizit von 3,6 Milliarden Dollar im letzten Jahr, das schon Mitte dieses Jahres zwei Milliarden Dollar erreicht hat. Und ein Haushaltsdefizit, das gegenüber den 230 Milliarden Forint vom letzten Jahr Ende 1994 wahrscheinlich bei 400 Milliarden Forint (6,15 Milliarden Mark) liegen wird. Doch während bei der Diagnose in der Regierungskoalition noch weitgehende Übereinstimmung herrscht, will kaum jemand Békesis Rezepten folgen. Der Grundsatz, mit dem er Ungarn aus der Krise führen will, lautet: kürzen, sparen, den Gürtel enger schnallen. Oder in seinen Lieblingsworten: „Steinharte Maßnahmen treffen!“

Ein im August vorgelegtes Regierungsprogramm zur Bewältigung der Wirtschaftskrise nennt als oberstes Ziel, das äußere und innere Finanzgleichgewicht des Landes wiederherzustellen und den Staatshaushalt zu entlasten. Ausgaben, vor allem Subventionen für Staatsbetriebe, sollen radikal gestrichen, einige Verbrauchssteuern erhöht, Arbeitsplätze vor allem im öffentlichen Dienst abgebaut und die Privatisierung beschleunigt werden.

Nachdem die Produktion im nächsten Jahr um 4 bis 5 Prozent zurückgegangen und 1996 ein Nullwachstum erreicht sein werde, so die Prognose, könnte 1997 erstmals ein Wachstum erzielt werden und der Lebensstandard wieder steigen. Aber nicht nur die Sozialisten und der mit ihnen alliierte größte Gewerkschaftsbund des Landes wollen sich nicht an das Programm halten. Auch manche Freidemokraten protestieren dagegen, obwohl sie in den letzten vier Jahren selbst eine liberale Wirtschaftspolitik forderten. Vor allem wegen der bevorstehenden Lokalwahlen Anfang Dezember mußte der Finanzminister bisher bei allen wesentlichen Sparmaßnahmen Kompromisse eingehen:

– für Oktober geplante Energiepreiserhöhungen um durchschnittlich 30 Prozent und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 10 auf 12 Prozent verschob die Regierung auf Januar 1995;

– gegen seinen Willen entschied sie, rückwirkende Rentenerhöhungen für 1994 und 1995 zu zahlen, damit ihr Realwert erhalten bleibe. Außerdem versprach die Regierung, daß Energiepreiserhöhungen im Oktober nur „15 bis 30 Prozent“ betragen und Arzneimittel nicht besteuert würden.

Auch einen Lohnstopp ab 1995 für die eine Million Angestellten des öffentlichen Dienstes wird Békesi voraussichtlich nicht durchsetzen können. Das Arbeitsministerium sieht einen fünfprozentigen Reallohnverlust als Schmerzgrenze an – bei einer für 1995 prognostizierten Inflation von 20 bis 22 Prozent bedeutet das Lohnerhöhungen von 16 bis 17 Prozent.

Kritisiert wird Békesi mittlerweile selbst von Ökonomen und Finanzexperten, die ihm Unterstützung für seine Sparmaßnahmen zugesichert haben. So etwa meldete der sonst als äußerst diplomatisch bekannte stellvertretende Nationalbankchef Frigyes Hárshegyi kürzlich in der Öffentlichkeit Bedenken an, weil er den Finanzminister für einen klugen Ökonomen, aber unklugen Politiker hält. Ein Regierungspolitiker dürfe in der Öffentlichkeit nicht von drohender Zahlungsunfähigkeit sprechen, so Hárshegyi. Er habe nämlich ausländischen Kreditgebern schon mehrmals versichern müssen, daß Ungarns Zahlungsfähigkeit nicht bedroht sei.

Békesi sieht denn auch seine Wirtschaftspolitik der Gefahr einer „Aufweichung“ ausgesetzt. Die bisherigen Kompromisse bezeichnete er vor Wochen als „Niederlage in einer Schlacht“. Am vergangenen Wochenende drohte er auf einem Parteikongreß der Sozialisten sogar mit seinem Rücktritt: „Wenn mein Programm nicht oder nur formal unterstützt wird, dann bin ich der erste, der geht.“