Streichkonzert ohne Partitur

Die Berliner Hochschulen sollen 1995 zusammen rund 300 Millionen Mark sparen / Bald nur noch 75.000 Studienplätze für 150.000 Studierende  ■ Von Ralph Bollmann

Genau 145.967 Studierende zählte das Statistische Landesamt im Sommersemester an den Berliner Hochschulen. Für sie standen nach der Vereinigung 130.000 Studienplätze zur Verfügung – paradiesische Zustände, fanden offenbar die Haushaltspolitiker der Großen Koalition. Jedenfalls entdeckten sie im vergangenen Jahr die Hochschulen, ohne Lobby und in der Öffentlichkeit ohnehin durch das Feindbild des faulen Langzeitstudenten geprägt, als bevorzugtes Feld für die Sanierung der desolaten Berliner Finanzen.

Dabei sprach Wissenschaftssenator Manfred Erhardt vor Jahresfrist noch von einem geordneten Abbau. Sein Hochschulstrukturplan sah vor, die Zahl der Studienplätze innerhalb von zehn Jahren auf 100.000 zu reduzieren. Die Hauptlast der bis zum Jahr 2003 einzusparenden 133 Millionen Mark sollte die Freie, einen kleineren Teil die Technische Universität tragen. Damals protestierten die Studierenden heftig und sprachen von „Zukunftsklau“ – doch angesichts des neuerlichen Streichkonzerts mutet die Einsparung von 13,3 Millionen Mark jährlich geradezu harmlos an.

Denn nach dem Entwurf des Landeshaushalts können die Hochschulen nächstes Jahr nun 170 Millionen weniger ausgeben, als in ihren von den Kuratorien beschlossenen Haushalten steht. Das haben sie auch der Tatsache zu verdanken, daß sie mitsamt ihren Personalkosten haushaltsrechtlich unter die von den Kürzungen überdurchschnittlich betroffenen Sachmittel fallen. Die auf der sommerlichen Sparklausur des Senats beschlossene Kürzung von noch einmal 135 Millionen wurde inzwischen durch eine „pauschale Minderausgabe“ in Höhe von 100 Millionen ersetzt.

Weitere Nadelstiche kommen hinzu: So läuft das Programm, das nach den studentischen Protesten 1988/89 Geld für Studienreformprojekte bereitstellte, ebenso aus wie das Hochschulsonderprogramm I des Bundes. Während die Verwaltung bis 1997 um ein Zehntel abspecken soll, müssen die Universitäten gleichzeitig Einrichtungen des Landes – den Botanischen Garten und die Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau – übernehmen. Insgesamt ein derart vielstimmiges Streichkonzert, daß sich selbst die Verwaltungen kaum noch in der eilig hingeklotzten Partitur zurechtfinden.

Die Dissonanzen sind freilich nicht zu überhören. Schon ohne die pauschale Minderausgabe, rechnete TU-Präsident Dieter Schumann vor, könnten freiwerdende Stellen nächstes Jahr generell nicht mehr besetzt werden. Ähnliche Zahlen nannte sein FU- Kollege Johann Wilhelm Gerlach und sprach vom „Kranksparen“. Da Haushaltskürzungen im öffentlichen Dienst eben nur die zufällig freiwerdenden Posten treffen könnten, sei die Hauruck-Methode des Senats „strukturwidrig“: Der Fachbereich Geschichtswissenschaften, an dem die meisten Professoren bald die Altersgrenze erreichen, müßte geschlossen werden. Auch die befristeten Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs fielen weg.

„Abbau von Mehrfachangeboten“ heißt Erhardts Zauberformel für die Einsparungen. Nach dem Senatsbeschluß vom Sommer schockte Senator Erhardt die Öffentlichkeit mit einer Sparliste: Sollten die budgetären Daumenschrauben wie geplant angezogen werden, müßten ihnen an der FU die Fächer Biologie, Ethnologie, Evangelische Theologie, Geographie, Indologie, Klassische Archäologie und Veterinärmedizin, an der HU Pharmazie, Agrarwissenschaften und Chemie sowie an der Technischen Universität Lebensmitteltechnologie, Lehrerbildung und Biologie zum Opfer fallen. Nach öffentlichen Protesten relativierte Erhardt, es handele sich nur um „Planspiele“. Doch räumt seine Sprecherin Monika Grütters ein, daß sich 300 Millionen schwerlich mit weniger drastischen Maßnahmen sparen ließen.

Der Hochschulstrukturplan jedenfalls ist längst Makulatur. Die dort vorgesehenen Einsparungen bis 2003 hat die FU, so Gerlach, schon jetzt fast erbracht. Die neuerlichen Kürzungen laufen nach allgemeiner Einschätzung auf 75.000 Studienplätze in ganz Berlin hinaus, auf denen sich dann doppelt so viele Studierende drängeln werden. Denn der von den Sparkommissaren angepeilte NC wird sich vor dem Verwaltungsgericht nicht halten lassen, weil die Rechtsprechung allenfalls eine langfristige Strukturplanung, aber keine wilde Kapazitätsvernichtung akzeptiert.

Um das Sparprogramm durchzusetzen, wollte sich Senator Erhardt vor einem Jahr selbst das Recht genehmigen lassen, Studiengänge aufzulösen. Der Plan scheiterte am massiven Widerstand der Studierenden, die im Dezember den Preußischen Landtag besetzten. Nun schickte Erhardt die Koalitionsfraktionen vor: Nach deren Willen soll jetzt eine neue „Hochschulkommission“ das Recht bekommen, Fächer zu streichen. Weil die Vertreter von Senat und Abgeordnetenhaus die Mehrheit haben sollen, lehnten die Universitäten den Vorschlag als Eingriff in die Hochschulautonomie ab und schlugen einen eigenen „Kooperationsbeirat“ vor.

Mit der Kooperation ist es freilich nicht weit her. FU-Präsident Gerlach wetterte gegen die HU, es sei „eine so sachwidrige wie unbillige Ungleichbehandlung, indem die bisherige Aufbauplanung im Ostteil geschützt und die Abbauplanung im Westteil überstürzt wird“. Die Humboldt-Universität dagegen verweist auf ihre 30.000 Quadratmeter Raumdefizit und wähnt sich mit den anderen Hochschulen in einem Boot. HU-Präsidentin Marlis Dürkop brach jetzt als erste das Tabu, eine Zusammenlegung der Berliner Universitäten ins Auge zu fassen: „Mein Wunsch wäre, daß der Kooperationsbeirat zu einer Grundhaltung finden könnte, die langfristig eine Berliner Universität mit verschiedenen Standorten vorsieht.“