Konservativ und manipuliert

Viele türkische Einwanderer können sich mit der deutschen Gesellschaft nicht identifizieren, der Einfluß der staatstreuen türkischen Medien ist groß: Plädoyer für nur eine Staatsbürgerschaft  ■ Von Irina Wießner

Die Intertaz vom 17. September zeigt bereits im Thementitel „Ausländer und Parteien“ und dem dazugehörigen Foto einer Macho- Männergruppe mit verhüllt respektvoll hinterhertrippelnden Frauen, daß von Fremdgebliebenen die Rede sein soll.

Bewußt oder unbewußt kommen nur türkische Autoren zu Wort, ist fast nur von türkischen Politikern und Gruppierungen die Rede, als gäbe es nicht seit Jahrzehnten Italiener, Kroaten, Vietnamesen, Spanier, iranische politische Flüchtlinge und Teppichhändler sowie vietnamesische, koreanische und chinesische Restaurantbesitzer in Deutschland. Man fragt sich, ob alle diese Genannten, sowohl Europäer als auch Nichteuropäer, Christen wie Nichtchristen, so viel weniger Integrationsprobleme oder ob sie weniger tüchtige Funktionäre haben. Die aus Iran, Irak und der Türkei als Studenten, politisch und ethnisch Verfolgte oder, besonders aus der Türkei, auch als Gastarbeiter ins Land gekommenen, zahlenmäßig eine der stärksten Gruppen bildenden Kurden werden als eigenständiges Volk gar nicht erst genannt, sondern nur als innenpolitisches Problem der türkischen Einwanderer am Rande erwähnt. Offensichtlich hat demnach die Gruppe der Türken den schwierigsten Stand in Deutschland. Ich möchte hierzu einige Aspekte anführen, die meiner Ansicht nach in den Intertaz-Artikeln nicht oder zu wenig beachtet wurden.

1. Die Nachbarschafts-, Kollegen- und Kundenebene, auf der Deutsche und Türken ständig miteinander zu tun haben. Deutsche können nette oder gleichgültige Nachbarn, Kollegen und Kunden sein oder solche, die ihrem Gegenüber mißtrauisch begegnen und feindselig auf die anderen herabblicken. Nur – und das spricht keiner der türkischen Kommentatoren in der Intertaz offen aus –: auch Türken begegnen Deutschen in dieser Unterschiedlichkeit, auch Türken stehen voller Mißtrauen und vielfach voll Verachtung abseits von ihren deutschen Mitbürgern, und zwar bewußt abseits, wollen nichts mit ihnen zu tun haben.

Ein großer Teil der ersten Generation und der als Ehepartner aus Anatolien nachgeholten Einwanderer kann aufgrund islamischer Wertvorstellungen und Erziehung die deutsche Lebensart in keiner Weise akzeptieren. Eine traditionell und zugleich im Geist des nationalistischen Kemalismus erzogene, von der Erhabenheit des Islam und der des türkischen Volkes überzeugte türkische Familie aus Anatolien will zum Beispiel nicht tolerieren, daß die Tochter des deutschen Nachbarn von den Eltern wegzieht, obwohl ihre Ausbildung in der gleichen Stadt stattfindet. Eine türkische Familie empfindet es als „ayip“, ungehörig, wenn deutsche erwachsene Kinder ihren Eltern und Großeltern nicht genügend Respekt zollen, sondern machen, was sie wollen – vor so etwas muß, nach Ansicht vieler türkischer Mitbürger, die eigene Familie bewahrt werden.

Die geringschätzige Meinung, die ein äußerst großer Teil der türkischen Volksgruppe von ihrer deutschen Umgebung hat, resultiert einmal aus ihrer Herkunft und Erziehung, zum zweiten aber aus ihrem geringen oder gar nicht vorhandenen Bemühen, die Deutschen besser kennenzulernen. Sie reagieren auch damit nicht anders als ihre deutsche Umwelt: Ignoranz und Desinteresse auf beiden Seiten.

2. In direktem Zusammenhang mit der Einschätzung von der moralisch unterlegenen deutschen Gesellschaft steht der die türkische Leserschaft in dieser Meinung vielfach bestärkende Einfluß der nationalistisch, faschistisch oder radikal-islamisch ausgerichteten türkischen Presse, der ihre Gläubigen beeinflussenden islamischen Geistlichkeit, die allesamt vor der Verwestlichung und Verdeutschung warnen.

Der politische Einfluß Ankaras auf die türkische Minderheit ist aber so stark, daß vor der Gewährung einer doppelten Staatsbürgerschaft gewarnt werden sollte. Er äußert sich in den türkischen Medien, die einen verderblichen, zum Teil antideutschen Einfluß auf ihre Landsleute ausüben, der diese nicht zur Ruhe kommen läßt und sie damit in gewisser Weise beider Heimatländer beraubt.

Die Kommentatoren der Intertaz klammerten die enge Verbundenheit gerade der Türken mit ihrer alten Heimat weitgehend aus. Nur im Gespräch mit Cem Özdemir wird die Zwiespältigkeit der als kommende Wähler angekündigten Minderheit angesprochen: „Ich habe wenig Verständnis für Migranten, die seit 30 Jahren und mehr hier lieben, sich aber kaum mit den Belangen der bundesrepublikanischen Gesellschaft auseinandersetzen ... das ständige Wiederkäuen von Erinnerung an eine Heimat, die in Wirklichkeit so nicht mehr existiert, ist eine Schizophrenie.“

Cem Özdemir ist für jeden Deutschen ein Mann, den man wählen kann, der „dieses unser Land“ berechtigt auch als sein Land betrachtet und daher als deutscher Bundestagsabgeordneter glaubwürdig sein wird, etwa wie Deutsche und andere Nationalitäten, deren zweite Generation nach der Einwanderung in die USA im allgemeinen zu glaubwürdigen und loyalen US-Bürgern geworden sind.

Doch leider sind Männer wie er offensichtlich in der Minderheit, Männer, die sich vor der Entscheidung für die Heimat der Zukunft nicht scheuen. Manchmal kommt mir die Haltung von deutschen und türkischen Verfechtern der beiden Staatsbürgerschaften vor wie das Überlegen, ob ein Paar nach mehrjährigem Zusammenleben nun heiraten soll oder nicht; eigentlich ist es nicht nötig, aber es bietet einige Vorteile, einige Sicherheit und vielleicht auch eine neue Qualität von Zusammengehörigkeit. Warum sollte man eigentlich keine Entscheidung für nur die eine deutsche Staatsbürgerschaft von allen Migranten, die hier ihre Zukunft sehen, erwarten können? Warum sollen sie nicht eine klare Aussage zu dem neuen Land in ihrer eindeutigen Staatsbürgerschaft dokumentieren? Niemand regt sich auf, wenn ein Europäer US- Bürger wird, warum muß man in Deutschland diese Unentschlossenheit verteidigen?

Eine doppelte Staatsbürgerschaft, das heißt mit Rechten auf zwei Seiten, trägt nicht zur Überwindung einer Zerrissenheit zwischen den Kulturen bei. Tansu Çiller, die türkische Ministerpräsidentin, ruft die im Ausland lebenden Landsleute zur Überweisung ihrer Spareinlagen auf türkische Banken, zu Spenden für das Vaterland in Not auf. Sie stürzt damit viele der türkischen Einwanderer in Gewissensqualen. Hürriyet, das Massenblatt, ruft auf zu Spenden für die kämpfende Truppe im Einsatz gegen die PKK. Jeder informierte taz-Leser weiß, daß es nicht bei dem Einsatz gegen die Partisanen bleibt. Im Krieg in Kurdistan sind innerhalb von zwei Jahren über 1.341 namentlich belegbare Dörfer zerstört worden, werden täglich kurdische Bauern aus ihren Dörfern vertrieben, ihre Häuser, die Ernte, sogar das Vieh angezündet und die Menschen an den Rändern der Großstädte ihrem Schicksal überlassen. Bomben hageln nicht nur auf PKK-Schlupfwinkel, sondern Bomben hageln auch auf Dörfer und Flüchtlingslager nieder. Dagegen regt sich hier bei kaum einem Aspiranten der doppelten Staatsbürgerschaft, bei kaum einem künftigen Wähler von Grünen, SPD und schon gar nicht CDU ein lautstarker Protest. Es gibt nur in Ausnahmefällen eine öffentliche Distanzierung von der menschenrechtsverletzenden Regierungspolitik der ehemaligen Heimat.

Türkische Wähler mit doppelter Staatsbürgerschaft sind keine „neutralen“ Wähler, denen die Zukunft der neuen Heimat am Herzen liegt. Solange sie sich so massiv von den heimatlichen Presseorganen beeinflussen lassen, bleiben sie voll und ganz „Ausländer“, die bloß über das Wahlrecht ihren Vorteil nutzen. Über die in Deutschland erscheinende türkische Presse wird es der Türkei gelingen, die deutsche Politik durch den Druck türkischer Wähler auf deutsche Parteien zu beeinflussen.

Schon heute muß die deutsche Außenpolitik Rücksicht auf türkische Belange nehmen, wurde gedrängt, die PKK zu verbieten, wird die Bundesregierung von Hürriyet in Schlagzeilen für das Verbot gelobt: „Danke, Herr Kohl“, oder zur Ordnung gerufen, wenn den Kurden ihrer Meinung nach von deutschen Behörden zu viel freier Lauf gelassen wird. Den türkischen Journalisten müssen deutsche Politiker oftmals wie Hampelmänner vorkommen, weil sie der Türkei gegenüber keine Zivilcourage aufbringen, die Verbrechen an der kurdischen Zivilbevölkerung nicht so couragiert wie zum Beispiel Madame Mitterrand zur Sprache bringen, um den inneren Frieden nicht zu stören und um Gottes Willen nicht als ausländer- beziehungsweise türkenfeindlich zu gelten.

Der HDF-Vorsitzende spricht aus, was uns bevorsteht: von der Brückenfunktion der türkischen Wähler zwischen Deutschland und der Türkei könne „insbesondere die SPD profitieren. Es geht schließlich ... um Hunderttausende von potentiellen Wählern, um deren Sympathie man werben muß.“

Fortsetzung auf Seite 19

Fortsetzung

Womit soll denn eine deutsche Partei, ob rot, grün oder schwarz, um die Gunst speziell türkischer Wähler werben? Mit rückschrittlicher Frauenpolitik? Mit der Billigung von Menschenrechtsverletzungen im alten Heimatland? Mit der Fortsetzung militärischer Hilfe für den Einsatz gegen die Kurden?

Die Drohung an die SPD hat Herr Iyidirli in seinem Interview ebenfalls schon parat: „Nehmen Sie zum Beispiel die Position der SPD gegenüber der türkischen Regierung oder ihr Verhältnis zu den Kurden [die SPD ist die einzige Partei im Bundestag, die eine Arbeitsgruppe Kurdistan eingerichtet hat, I.W.]. Unserer Ansicht nach ist sie fehlerhaft ... durch diese Politik hat die SPD eine ganze Menge an Sympathisanten unter den türkischen Migranten verloren.“

Ist die Erwartung eine Illusion, daß Menschen fern der Heimat ihr ehemaliges Land und seine Regierung differenzierter und kritischer betrachten? Durch den Einfluß von türkischer Presse, Radio und Fernsehen wird der türkische Bevölkerungsteil aber (mit gelegentlicher Ausnahme des WDR in Köln und so differenzierter Journalisten wie Osman Okkan) so einseitig informiert, daß ein Dialog über die Menschenrechtsverletzungen im schmutzigen Krieg in Kurdistan nicht möglich ist, nicht mit dem Arbeiter, dem Taxifahrer, Kaufmann und genausowenig mit dem Intellektuellen.

Eine solchermaßen instruierte und manipulierte Klientel soll über eine doppelte Staatsbürgerschaft und das deutsche Wahlrecht Einfluß nehmen auf die deutsche Außenpolitik. Die Drohungen gegen den niedersächsischen MP Schröder (Hürriyet-Schlagzeile: der Separatistenfreund) beweisen leider zur Genüge die Richtigkeit dieser skeptischen Sicht.

Der türkische Wähler wird, wie der gebürtige deutsche Mitbürger auch, zunächst einmal den eigenen Vorteil im Augen haben, bevor man sich für eine Partei entscheidet. Danach aber wird bereits die Einstellung der anvisierten Partei gegen die Türkei die Hauptrolle spielen. Die Grünen, die sich so sehr für die Rechte der ausländischen Migranten einsetzen, werden das Nachsehen haben, denn sie entsprechen mit ihren Programmpunkten weder den Moralvorstellungen, noch in ihrer Haltung zur Türkei den Wünschen der meisten türkischen Wähler. Auch die SPD hat sich als zu kurdenfreundlich profiliert.

Die CDU jedoch, die die doppelte Staatsbürgerschaft beharrlich verweigert, wird den Vogel abschießen. Sie steht, besonders in Bayern, für den Erhalt der familiären Werte, von ungeborenem Leben, und in ihrer Außenpolitik steht sie treu zum Nato-Partner Türkei, leugnet offiziell wunschgemäß die Existenz eines kurdischen Problems. Statt dessen spricht sie lediglich von „Terrorismusbekämpfung“ und versucht, den Druck auf die Türkei, zu dem sie innenpolitisch gedrängt wird, so niedrig wie möglich zu halten.

Um die Abhängigkeit von „ausländischen“ Wählerstimmen so niedrig wie möglich zu halten, müssen die Inhaber der Stimmen sich für die eine oder die andere Seite entscheiden. Jeder, der wählt, geht dann nur als deutscher Staatsbürger, welcher ursprünglichen Nationalität auch immer, zur Wahlurne.

Wie wichtig das ist, zeigt die warnende Drohung von Faruk Sen, ab und zu Kommentator bei Hürriyet, in der Intertaz: „Sollte es den deutschen Parteien nicht gelingen, die ausländische Minderheit in ihre Politik und Zielsetzungen zu integrieren, dann wird die Eigendynamik dieser Minderheit ganz andere Züge annehmen, die sicherlich dem inneren Frieden dieses Landes nicht dienlich wären.“

Diese Warnung kann nur heißen, wenn die deutschen Parteien nicht auf die Forderungen der potentiellen Wähler aus der Türkei eingehen, etwa in der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft, der Wirtschafts- und Militärhilfen an die Türkei, der Zypernfrage, dem Kurdenproblem, dann organisiert sich diese Minderheit selbst, und das würde bedeuten, sie wird nicht nur von den gebürtigen deutschen Mitbürgern isoliert, sondern sie isoliert sich auch selbst noch mehr von der deutschen Bevölkerung, übernimmt weiterhin die Parolen des Vaterlandes, akzeptiert die Kurden nicht als eigene Volksgruppe, unterstützt die militärische Lösung in Kurdistan, distanziert sich nicht von Menschenrechtsverletzungen und wird beginnen, auch innenpolitisch Forderungen zu stellen, deren Konsequenzen wir heute noch gar nicht absehen können.

Die Autorin ist Turkologin und arbeitet seit 17 Jahren regelmäßig in der Türkei. Seit 1991 ist sie Mitarbeiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker und organisierte humanitäre Hilfe für die irakischen Kurden in den Lagern der Türkei und in Irak-Kurdistan. Zuletzt arbeitete Irina Wießner als Nahostreferentin der Gesellschaft für bedrohte Völker.