Sie versuchten zu leben

Arno Lustiger hat die erste umfassende Darstellung des jüdischen Widerstandes von 1933 bis 1945 vorgelegt / Ein phänomenales Buch, das mit dem Vorurteil, Juden hätten sich „wie Schafe zur Schlachtbank“ führen lassen, bricht  ■ Von Anita Kugler

Als diese Zeitung vor einigen Wochen ein bekanntes Forschungsinstitut fragte, ob dort nicht jemand Lust habe, eine Rezension über Arno Lustigers neuestes Werk zu schreiben, winkte schon das Sekretariat ab. Lustigers Buch – „Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933 bis 1945“ – sei gewiß sehr interessant. Für einen professionellen Zeitgeschichtler enthalte es aber wenig Neues.

Seit wann ist die Geschichtsforschung eine Geheimwissenschaft? Es gibt umfangreiche Bibliotheken über jede Facette nationalsozialistischer Grausamkeit an den Juden, aber Literatur über Juden, die sich wehrten, ist kaum zu finden. Mehr noch, berühmte Historiker bestreiten gar, daß es außer dem Aufstand im Warschauer Ghetto überhaupt einen nennenswerten jüdischen Widerstand gegeben habe. Zum Beispiel Raul Hilberg. 1992 erklärte er bei einer Diskussion, zum großen Entsetzen von Lustiger: „Fünfundvierzig Jahre lang habe ich den jüdischen Widerstand gesucht und nicht gefunden, obwohl ich jedes Ereignis, jeden Namen und jedes Geschehen untersucht habe.“ Vollends vernichtend ist das Urteil des Psychotheurapeuten Bruno Bettelheim, der selbst kurze Zeit in einem deutschen KZ sitzen mußte. „Millionen von europäischen Juden, die nicht rechtzeitig flüchten oder untertauchen konnten, hätten wenigstens als freie Menschen gegen die SS marschieren können, statt zuerst am Boden zu kriechen, dann zu warten, bis sie zu ihrer eigenen Vernichtung zusammengetrieben wurden, um anschließend selbst in die Gaskammer zu gehen“.

Arno Lustiger, Historiker ohne akademische Weihen, hat das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Er hält das beharrliche Nicht-wissen-Wollen nicht nur für ehrabschneidend, sondern geradezu für einen „aktiven und aggressiven Akt“. Der Mythos von den Juden, die sich wie die „Schafe zur Schlachtbank“ hätten führen lassen, „gehört zu den letzten historischen Lügen, die alle Phasen der Betroffenheit und der Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte überdauert haben“. Lustiger fordert eine Umschreibung der Geschichte der Shoa. Wohl wissend, daß er damit gegen die etablierte Historikerzunft anschreibt.

Das Material, das er vorlegt, um die jüdischen Widerstandskämpfer der Vergessenheit zu entreißen, ist faszinierend. Die Dokumentation fesselt bis zur letzten Zeile. Die Akteure sind keine anonymen Helden und Märtyrer, sondern tragen Namen und haben Biographien. „Sie kämpften nicht, um zu siegen“, schreibt Lustiger, „sondern für die Ehre des jüdischen Volkes, für ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern.“ Und natürlich für ihr Leben und das ihrer Leidensgenossen. Meist war es vergeblich.

Im Ghetto von Wilna kursierte im Januar 1942, zwei Wochen vor der Wannseekonferenz in Berlin, ein Flugblatt des Dichters und Partisanenkommandanten Abba Kowner, der mit dem berühmten und später so mißbrauchten Satz „Laßt uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen“ beginnt. Und im Ghetto von Bialystok appellierte der Intellektuelle Mordechaj Tenenbaum ein Jahr später an sein Volk: „Aussiedlung bedeutet den Tod. Gehe nicht freiwillig in den Tod. Verteidige dein Kind, räche deine Mutter. Wenn du deine Wohnung verläßt, setze dein Eigentum in Brand. Hinterlasse den Mördern nichts! Gehe nicht nach Treblinka! Jüdischer Polizist! Hilf nicht den Henkern!“

In Wilna und Bialystok folgte die Mehrheit der Ghettobevölkerung noch der Autorität der Judenräte, die irrtümlich meinten, Wohlverhalten werde von den Deutschen belohnt. In vielen anderen polnischen oder litauischen Ghettos hingegen sammelten Judenräte Waffen, versteckten Partisanen, wehrten sich in Straßenschlachten. Im litauischen Kowno gehörten sogar die jüdischen Polizisten zum Kern der Widerstandsbewegung.

Arno Lustiger hat für sein beachtliches Buch US-amerikanische, polnische, russische, hebräische und in jiddisch verfaßte Quellen ausgewertet, die über Jahrzehnte unbenutzt in Archiven herumlagen. Die hätte, sagt Lustiger, auch Raul Hilberg jederzeit nutzen können. Lustiger hat jahrelang recherchiert, Tagebücher von Widerstandskämpfern, Judenratsvorsitzenden, Ghetto-Polizisten gesammelt, Erinnerungen von jüdischen Partisanen und Soldaten, die in den alliierten Armeen kämpften, aufgeschrieben und die Akten der Täter – vor allem die der Nürnberger Prozesse – gegen den Strich gelesen. Sein Fazit: Neben dem bewaffneten Widerstand, der nur in den seltensten Fällen möglich war, wurde von zahlreichen Juden ständig ziviler, passiver und geistiger Widerstand geleistet. „Jeder Überlebende ist Zeuge dieses Widerstandes, denn wäre es nach den Nazis gegangen, hätte kein Jude den Krieg überlebt.“

Er berichtet über Revolten in Provinzghettos, Rebellionen in Konzentrationslagern, über Ereignisse, die in Orten stattfanden, die heute auf keiner Landkarte mehr verzeichnet sind. Wer weiß schon etwas über Tucyn bei Rowno in Wolhynien, wo die 3.000 Eingepferchten am jüdischen Feiertag Jom Kippur 1942 das eigene Ghetto anzündeten, um nicht an den schon ausgehobenen Gruben erschossen zu werden? Im Chaos der Flammen flüchteten sie in die Wälder. Sie wußten, daß sie dort kaum eine Überlebenschance hatten. Aber sie versuchten zu leben. „Es ist mein Wunsch“, schreibt Lustiger, „daß man von nun an neben Lidice und Oradour auch der Bewohner von Tucyn gedenkt.“

Das faszinierendste Kapitel gelingt Lustiger über den bewaffneten Partisanenkampf in den litauischen, ostpolnischen, weißrussischen und ukrainischen Wäldern. Vollkommen erstaunt muß der Leser lernen, daß die Behauptung der Nazis, ein Großteil der Partisanen seien jüdisch, zutreffend ist. Diese Tatsache wollte auch Stalin kurz nach dem Krieg vergessen machen. Er ließ das „Schwarzbuch“, einen Bericht von Ilja Ehrenburg über die Vernichtung der sowjetischen Juden und ihren Partisanenkampf, kurzerhand einstampfen.

Diese jüdischen Partisanen, die aus den Ghettos heraus in die Wälder flüchteten, kämpften unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen. Sie bewegten sich in Ländern, deren Bevölkerung traditionell antisemitisch war. Ein verletzter polnischer Partisan konnte immer noch Unterschlupf bei Bauern suchen, ein jüdischer Partisan hingegen nicht. Sie besaßen wenig Waffen, aber ohne Waffen nahm keine Partisanengruppe sie auf. Sie hatten keine Erfahrung, wie man in den Wäldern lebt, weil die osteuropäischen Juden fast immer nur in Städten lebten. Und mit ihnen aus den Ghettos kamen meistens Hunderte unbewaffneter Menschen, die in sogenannten jüdischen Familienlagern – oft tief in den Sümpfen – hausten und versorgt werden mußten. Und noch eine Besonderheit: In ihren Reihen kämpften viele junge Frauen, was von den nichtjüdischen Partisanen nur schwer akzeptiert wurde. Lustiger berichtet, daß viele nichtjüdische Partisaneneinheiten den aus den Ghettos geflüchteten Frauen die Waffen wegnahmen, sie gar vergewaltigten, sie dem Tod preisgaben. Den Versuch der jüdischen Partisanen, eigene jüdische Einheiten zu bilden, damit die unbewaffneten Familienlager und die Kämpferinnen geschützt seien, verhinderten die von Moskau aus operierenden obersten Partisanenleitungen der Roten Armee.

Trotz alledem: Jüdische Partisanen sprengten Züge in die Luft, verwickelten Wehrmachtseinheiten in wochenlange Kämpfe, sabotierten, wo es nur ging. Es gab jüdische Fallschirmspringer, die hinter den Linien kämpften, und jüdische Kommandanten und Kommandantinnen, die ihre Gruppen „Rache“ oder „Vergeltung“ nannten. „Ich habe jede Aktion genossen“, berichtet ein ehemaliger Sprengmeister, „es war ein Gefühl der Rache, daß ich damit jetzt vergolten habe, was mir alles angetan worden ist, im Ghetto, mir und meinen Eltern.“

Genau wie Raul Hilberg vor über 30 Jahren mit seinem epochalen Werk „Die Ermordung der europäischen Juden“ eine Wende in der Holocaust-Forschung einläutete, muß Lustigers Dokumentensammlung jetzt zu einem Beginn vor allem deutsch-osteuropäischer Widerstandsforschung werden. In den jetzt offenen Archiven liegt noch viel unbekanntes Material über Widerstandsaktionen, zum Beispiel in Riga. Arno Lustigers Darstellung mindert kein Jota die Totalität nationalsozialistischer Grausamkeit. Aber sie ändert das (falsche) Bild eines jüdischen Fatalismus während der Shoa grundlegend. Und dies ist wichtig. Gerade in Deutschland, wo sich alle Forschung, alle Museen und alle Denkmäler unerbittlich nur auf die Vernichtung der Juden konzentrieren.

Arno Lustiger: „Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933–1945“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 628 Seiten, 78 DM