Helm auf für die Zukunft?

Computerfirmen setzen auf den Markt für „Virtual Reality“ – Ingenieure wissen noch nicht viel mit dieser neuen Technik anzufangen  ■ Von Georg Moeritz

Berlin (taz) – Gelegentlich setzen die Forscher von Daimler- Benz in Berlin-Marienfelde Helm und Brille auf. Aber sie bleiben im Labor und nehmen Platz in einem halben Auto. Helm und Brille der Piloten sind mit einem Computer verbunden, der ihnen dreidimensionale Bilder vor die Augen spielt. Dreht ein Helmträger den Kopf, so verändert sich sein Blickwinkel, als bewege er sich durch den dreidimensionalen Raum.

Computerspezialisten versprechen sich viel von den Welten der „Virtual Reality“-Technik. Um Autos oder Maschinen zu begutachten, soll es künftig genügen, Helm und Brille aufzusetzen, vielleicht auch noch einen Handschuh mit Kabeln überzustreifen, der Fingerbewegungen sofort als Änderungen in Konstruktionszeichnungen überträgt.

„Ein erhebliches Realisierungspotential“ erwartet Jens Neugebauer, Gruppenleiter im Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), ohne allerdings eine Prognose stellen zu wollen; einen „wachsenden Markt“ sieht Uwe Schnepf, der ein „Ingenieurbüro für innovative Computeranwendungen“ in St. Augustin betreibt. Und japanische Experten rechnen mit Milliardenumsätzen – allerdings im Jahr 2020, eine ganze Menschengeneration und viele Computergenerationen entfernt.

Eine einzige Maschine in Europa ist bisher per „Virtual Reality“ entworfen worden und hat nach der Hannover Messe 1994 ihren Betrieb aufgenommen. Im Auftrag der Chemiefirma Boehringer Mannheim GmbH hatten Forscher der Stuttgarter IPA verschiedene Änderungen an einem Gerät ausprobiert, das noch gar nicht vor ihnen stand. Es entstand nach und nach, indem Details im Computerbild hinzugefügt oder wieder weggenommen wurden.

„Das hätte man auch ohne Helm geschafft“, urteilt Computergraphikexperte Dirk Lüsebrink von Berliner Forschungsprojekt „Art + Com e.V.“. Der Informatiker erinnert daran, daß Konstruktionszeichnungen schon seit Jahren auf dem Bildschirm entstehen – zwar als flache Grafik, aber mit durchaus hinreichend räumlichem Eindruck. Helm und Handschuh würden zwar gern genutzt, um die neue Technik auszuprobieren, aber bisher gebe es „fast keine realen Anwendungen“.

Auch Axel Zweck, Leiter der Abteilung „Zukünftige Technologien“ des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) in Düsseldorf, ist der Ansicht, „Virtual Reality“ werde „in der Produktionstechnik noch einige Zeit auf sich warten lassen“. Die neue Technik hat immerhin die Phantasie angeregt. Städteplaner setzen Straßen und Plätze so ins Bild, daß bebrillte Betrachter hindurchzugehen glauben, Künstler experimentieren mit Kunstwelten und Mediziner mit Körperteilen. Von möglichem „Cybersex“ schwärmen Journalisten. Wirklich marktreif ist „Virtual Reality“ bisher in der Präsentation dreidimensionaler Bilder auf Messen. „Den Marketingbereich haben wir erobert“, sagt Martin Göbel, der ein Informationszentrum der Fraunhofer-Gesellschaft in Darmstadt leitet. Jetzt müsse nur noch die Industrie vom Nutzen überzeugt werden. Ingenieure sollen die neue Technik in Kampaktkursen unterm Helm lieben lernen. Sieben Millionen Mark habe sein Arbeitgeber dafür investiert, sagt Göbel, doch „die meisten Mittelständler wären heute froh, wenn sie Computer mit quasi dreidimensionaler Darstellung hätten“.

Präsentation also statt Produktion. Es sei denn, glaubt VDI-Zukunftsexperte Zweck, „der eigentliche Siegeszug der Virtual Reality wird über das Kinderzimmer kommen“. Als Freizeitbeschäftigung nämlich eignen sich die farbigen Räume hinter der Helmbrille sehr viel besser als die gängigen Gameboys. Haben die Kids das erst einmal entdeckt, prophezeit Zweck, dann ist es nicht mehr weit bis zum virtuellen TV-Programm für die Erwachsenen. Die Industrie könnte sich dann geradezu gezwungen fühlen, Arbeitsplätze mit der neuen Technik auszustatten – „ob sinnvoll oder nicht“.

Schon jetzt stehen neben den Münzautomaten im „Cybercafé“ am Berliner Bahnhof Zoo sechs Geräte zum Anschaffungspreis von je 68.000 Mark, an denen Jugendliche mit klobiger Kopfbedeckung Flugreisen und Kämpfe simulieren. Noch sind da grobe Farbflächen zu sehen, Bilder in Fernsehqualität würden ein Vielfaches kosten. „Doch in einigen Jahren wird es solche Spiele für den Hausgebrauch geben“, sagt Zweck voraus. Zu Preisen unter 1.000 Mark würden dann Technikbegeisterte ihre künstliche Welt im Kinderzimmer aufstellen, vielleicht über Kabel verbunden mit einem ähnlich ausgerüsteten Spielpartner.

Auch der Hersteller der Münzautomaten im „Cybercafé“, die britische Firma „W Industries“, hat sich vorbereitet. Ihren Namen änderten die Hard- und Softwareproduzenten aus Leicester in „Virtuality Group“. Unter dem Titel Cybizz erscheint seit August eine Fachzeitschrift für Virtuelle Realität. Das 20-Seiten-Heft verspricht einigermaßen, was es halten kann: „Visionen“ und Geschäfts- „Ideen“.