Der Bejaher

Kenzaburo Oe, Nobelpreisträger für Literatur, ist nur zum kleineren Teil ins Deutsche übersetzt. Ein Vierteljahrhundert fehlt  ■ Von Siegfried Schaarschmidt

Vor Jahren erklärte mir ein deutscher Fan von Kenzaburo Oe – ja, es gab und gibt sie! –, er habe „alles“ von ihm gelesen. Dabei konnte es sich freilich nur um einen winzigen Ausschnitt handeln. Von einigen verstreut in Anthologien publizierten Erzählungen abgesehen, war seit 1972 (in verschiedenen Ausgaben) der Roman „Eine persönliche Erfahrung“ auf dem deutschen Buchmarkt; 1980 kam ein weiterer Roman hinzu, der im damaligen Ost-Berlin „Der stumme Schrei“ und als West- Übernahme (aus titelrechtlichen Gründen) „Die Brüder Nedokoro“ hieß. Beide hatten keine „großen“ Kritiken, ja, die „großen“ Kritiker bemerkten sie nicht einmal; daß dennoch im Falle der „Erfahrung“ über zwei Jahrzehnte hinweg Zigtausende das Buch erwarben, spricht für die Wirkung unauffälliger Mundpropaganda.

Kein leichtes Stück Literatur, das die schwedische Akademie da qua Ehrung aus dem Halbdunkel herausgeholt hat: Der fünfzigjährige Japaner namens Kenzaburo Oe, Nobelpreisträger seit vergangenem Donnerstag, ist mit seinen bisher rund zwanzig (manchmal doppelbändigen) Langromanen, mit seinen zahlreichen Erzählungen und Essays nicht nur ein überaus fruchtbarer Schreiber, sein Werk basiert auch auf präzise gesehener Realität, die aber überwuchert wird von einer oft ins Groteske umschlagenden Metaphorik. Oe selbst beruft sich auf die Kraft der Imagination, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verkoppelt. Noch in der Übersetzung (hier ein besonders schwieriges Unterfangen) erfordern seine Texte ein angespanntes Hinhören.

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Anfang der siebziger Jahre wurden hierzulande die „Contergan- Kinder“ diskutiert. Um ein geschädigt geborenes Kind geht es auch in der „Persönlichen Erfahrung“. Einem jungen Lehrer, der auf dem Sprung ist, aus der japanischen Stadtenge nach Afrika, in die „Wildheit“ zu flüchten, stößt, alle Pläne durchkreuzend, das Unerwartete zu: Sein erster Sohn kommt mit einer blasenartig am Kopf austretenden Gehirnhernie zur Welt. Dem Vorschlag der Ärzte, durch Operation eine wenn vielleicht auch nur „pflanzenhafte“ Existenz zu retten, mag der entsetzte junge Vater nicht ohne weiteres zustimmen. Er muß an Apollinaire denken: Den Kopf mit Binden umwickelt, kehrt der Sohn vom Schlachtfeld zurück; so kam er aus dem Mutterleib, und die Schlacht, die unter seiner, des Vaters, Beteiligung geschlagen wurde, war die Zeugung.

Im Einklang mit Oes Imaginationstheorie stürzt sich der Protagonist, indem er sich bei einer früheren Freundin verkriecht, in Sexualekstasen, von denen er sich die Wiedererlangung der Selbstgewißheit (eine Neuordnung des „Schlachtfeldes“) verspricht. Doch auch diese Flucht, wie jene nach Afrika, mißglückt; das Kind hält ihn fest. Schließlich willigt er ein in die Operation. Yukio Mishima hat diese moralische Umkehr als „schwach“ bezeichnet – er natürlich hätte es dramatischer enden lassen. Aber genau das ist der Punkt: Oe schreibt als ein „Bejaher“, gegen den gelegentlichen ersten Anschein beharrt er auf dem humanistischen Erbe.

Oe fiktionalisierte hier sehr persönliche Erfahrungen: Die medizinische Fallbeschreibung trifft unverändert so auf seinen 1963 geborenen Sohn Hikari zu. Daß das Buch trotzdem nicht im Autodokumentarischen bleibt, sondern das Thema objektiviert, ist nur ein Beispiel für die frühe literarische Meisterschaft des bei der Niederschrift Achtundzwanzigjährigen.

War in dem Roman nur am Rande von der Herkunft der Hauptfigur aus der Provinz die Rede, so tritt dieses Motiv in „Die Brüder Nedokoro“ in den Vordergrund. Die Brüder, die, ihr Erbe anzutreten, aus der Stadt in das westjapanische Waldtal zurückgekehrt sind, graben sich in die Geschichte ihrer Familie ein – der eine weniger, der von Frau und „pflanzenhaftem“ Kind begleitete andere mehr.

Die Szene gibt Auskunft auch über des Autors „Wurzelort“, wie „Nedokoro“ zu übersetzen ist. In einem solchen Tal, getrennt von der Außenwelt durch die 99-Kurven-Straße, wurde Oe am 31. Januar 1935 geboren. Das kleine elterliche Anwesen scheint – wie im Roman der „Speicherhof“ – auf einem Hügel in der Mitte des Dorfes gelegen zu haben. 1944 starben Großvater und Vater, im Jahr darauf bei Kriegsschluß kamen in ihren Jeeps und mit der Demokratie (dazu Konserven, Comics und so weiter) die Amerikaner ins Tal. In der Erzählung „Der Fang“ (1958; deutsch im „Großen Japan-Lesebuch“ bei Goldmann), die in den letzten Kriegstagen spielt, wird ein gefangener schwarzer GI aus einem abgeschossenen Bomber von den Dorfjungen neugierig umsorgt wie ein Tier – und wie ein solches erschlagen ihn, als er sich aufbäumt, die Männer. Die Nedokoro-Brüder wiederholen ähnliche Erinnerungen über die Kapitulation hinweg. Je mehr Oe man liest, desto deutlicher meint man, seine biographischen Hintergründe zu erfassen: die Kindheit im Tal, die Oberschule in der Provinzhauptstadt, dann den Sprung nach Tokio an die berühmte Todai-Universität, wo er bis 1959 Französisch studiert und mit einer Arbeit über Sartre abschließt, als er bereits die erste literarische Auszeichnung, den Akutagawa-Preis, in der Tasche hat.

In den „Brüdern Nedokoro“ greift Oe weit zurück: Vor hundert Jahren (das heißt zur Zeit der „Landesöffnung“ von 1868) hatte ein Bruder des Urgroßvaters gegen die Obrigkeit revoltiert. Oe selbst ist um 1960 bei den zum Großteil von Studenten unternommenen Protesten gegen die Erneuerung des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrages einer der Wortführer. Später wird er sich an Sitzstreiks gegen die Atombombenversuche, gegen den Vietnamkrieg, gegen die Generalscliquen in Südkorea beteiligen oder sich, als Okinawa aus amerikanischer Hand ans „Reich“ zurückgegeben werden soll, mit Gleichgesinnten dafür einsetzen, daß diese kulturell zwischen China, Japan und Korea stehenden Inseln ein unabhängiger „Freistaat“ werden.

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Oe ist dabei kein Einzelgänger gewesen, wie das bei uns gelegentlich gesehen wird; konnte er gar nicht sein, da die überwiegende Zahl der japanischen Nachkriegsintellektuellen „links“ empfand; Kobo Abe (1924–93); „Die Frau in den Dünen“ und andere) war in jüngeren Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Japans, Oe hat da immer auf Distanz gehalten. Radikaler Verfechter einer pazifistischen, humanen Demokratie (wie sie die Verfassung von 1946 proklamierte) – das war und ist Kenzaburo Oe. Wenn er selbst die Ansicht äußert, er sei in Japan ein Außenseiter oder die verkauften Auflagen seiner Bücher seien rückläufig, so sollte man dies mit Vorsicht aufnehmen. Auch in Japan sind, scheint es, die Printmedien in Schwierigkeiten geraten, ändern sich die Lesegewohnheiten. Der erste Band der jüngsten Romantrilogie „Der flammende grüne Baum“ habe, klagt Oe, im ersten halben Jahr lediglich 30.000 Käufer gefunden (nach vorausgegangenem Zeitschriftenabdruck). Zugegeben, das sind nicht dieselben Zahlen wie bei der „Persönlichen Erfahrung“, die es in Japan von 1964 bis heute auf knapp eine halbe Million Auflage gebracht hat (Paperback eingeschlossen); oder wie bei den „Brüdern Nedokoro“ mit 250.000 seit 1967; aber von „Beiseitesetzung“ kann doch wohl nicht die Rede sein.

Eher werden wir uns fragen müssen – und nun nach diesem Nobelpreis erst recht –, wie wir uns einem Romancier solchen Formats zum Nutzen unseres Literatur- (und Japan-)Verständnisses nähern könnten. Und auch: wie wir erst einmal die Lücke füllen sollen, die sich zwischen „Eine persönliche Erfahrung“ (im Original 1964) und „Die Brüder Nedokoro“ (1967) einerseits und andererseits der seit Ende 1993 sukzessive erscheinenden und offensichtlich von einem deutschen Verlag in diesen Tagen bereits angekauften Trilogie „Der flammende grüne Baum“ zu füllen sei. Oe hat einmal erklärt, die „Erfahrung“ bilde den Abschluß seines „Jugendwerks“, die „Nedokoros“ den Auftakt zu den Arbeiten seines „Mannesalters“; uns fehlt ein Vierteljahrhundert Oe.

Vor einigen Wochen ging bei uns das Gerücht um von einem „Romanverzicht“, den Oe geleistet habe. Richtig ist, daß er das Thema des behinderten Sohnes Hikari für abgeschlossen erachtet, nun, nachdem dieser wunderbarerweise mit dem absoluten musikalischen Gehör begabte Mensch zu einem anerkannten Komponisten herangewachsen ist. Richtig ist sicher auch, daß eine Trilogie (deutsch etwa eineinhalbtausend Manuskriptseiten) die Kräfte aufzuzehren vermag. Aber das alles muß nicht heißen, Oe sei am Ende des Erzählens angelangt. In Japan gilt der 60. Geburtstag als Abschluß des alten und Beginn eines neuen Lebenszyklus. Kenzaburo Oe, der diese sogenannte kanreki- Scheide im nächsten Januar erreichen wird – sollte er mit dem Eintritt ins „Greisen“-Alter nicht noch einmal als ein Neuer erscheinen?

Siegfried Schaarschmidt ist der deutsche Übersetzer der Werke von Kenzaburo Oe