■ Die Demokratie jenseits der Bundestagswahlen
: Die Re-Infantilisierung der Bürger

Die Entmächtigung des Souveräns zum Stimmvieh ist zur primären Gefahr der Demokratie geworden. Diese wird ausgehöhlt, wenn die Instrumente der politischen Willensausübung, die Politiker, ihrerseits den Souverän für sich instrumentalisieren. Die bloße Inszenierung auf dem Bildschirm ist die Folge, Allgegenwart tritt an die Stelle der Idee, des Programms.

Die Bürger werden von den Medien tagtäglich mit einer Fülle von Überlebensrisiken geradezu bombardiert: Plutoniumschmuggel, Bevölkerungsexplosion, Ozonloch, Treibhauseffekt, Krebsraten, Smog, Aids, Kriege. Diese Problemvielfalt und Problemvernetzung macht dem Bürger die eigene Orientierung zunehmend zeitraubend und schwierig, macht ihn bedürftig für Wegweiser, anfällig für Demagogen, die Sicherheit versprechen. Die eigene Sehnsucht nach Abgabe von Gestaltungsverantwortung und die Ahnung, daß die Versprechungen ohne Realitätsgehalt sind, widerstreiten sich. Zweifel an der Bedeutung von Wahlkampfthemen, Zweifel sogar an nationalen demokratischen Wahlen für die Lösung von Zukunftsfragen können kaum unterdrückt werden. Was ist von Demokratie zu halten, wenn die Wähler nicht mit der berechtigten Hoffnung zu den Urnen gehen können, daß sie mit ihrer Stimme Lösungen befördern, Risiken entschärfen, Zukunftsperspektiven für das eigene Alter und für die nächsten Generationen erhalten oder schaffen können?

Wie glaubwürdig sind die Sicherheitsversprechen nationaler Politiker heute? Nationale und internationale Wirtschaftskonzerne haben Regierungschefs teilweise entmachtet, internationale Zusammenschlüsse nationale Regierungen in wesentlichen Bereichen entmächtigt, globale ökologische Risiken sind nur mit Hilfe der Bürger vieler Nationen zu bewältigen, aber nicht von einzelnen Regierungschefs. Weder Kohl noch Scharping könnten eine Familie in Herne oder Güstrow vor einer atomaren Wolke schützen. Das wissen die Wähler. Politiker, denen bei dual use-Gütern und bestrahltem Gemüse die Hände angeblich gebunden sind, machen sich lächerlich, wenn sie sich andererseits als Allvater ihren Wählern anpreisen. Sie hinken mit diesem politischen Gesellschaftsbild schon geraume Zeit hinter der Realität her. Was hat der Bundestag, was ein Abgeordneter schon auszurichten, wenn Kohl kungelt? Was Kohl, wenn die Bundesbank ihre eigene Politik verfolgt? Was, wenn Clinton und Jelzin anders wollen als Kohl? Die Sicherheitsversprechen der Politiker sind hohl, die Wähler erfahren das in ihrem Alltag alle naslang durch Arbeitslosenquoten, die nächste Steuererhöhung, Streichungen im Nahverkehr, Ozonbelastung, Waldsterben, Klimaveränderungen, den nicht endenden Krieg in Jugoslawien.

Die Politik-Inszenierung über den Bildschirm dient dem Stimmenfang – und ist vor allem ein Ablenkungsmanöver, Folge einer inneren Armut der Altparteien, die keine Zukunftsvision haben und deshalb keine Hoffnung vermitteln können, die nicht mehr vital sind. Gab es im vergangenen Jahrzehnt eine Idee, die originär politisches Kind der Altparteien gewesen wäre? Der Mangel an Perspektive, den die Koalition seit Legislaturperioden offenbart, hat über die Jahre zu Fatalismus bei den Bürgern geführt, sogar zu Zynismus, er hat die Demokratie als solche in Mißkredit gebracht. Die Sensibilität der Menschen, ihre Furcht vor der Zukunft, vor Umweltzerstörung steht in immer krasserem Gegensatz zu der kurzsichtigen Wurstelei der Koalition. Die Sicherung der Renten zugunsten der heutigen Ressourcenverschwender nimmt in der politischen Diskussion der Koalition mehr Raum ein als die Wahrung der Lebensinteressen derjenigen Generation, die zum Packesel gemacht wird, dem noch das kärgste Futter reichen muß.

Wie überzeugt jemand, der nicht weiter weiß, andere von seiner immensen Wichtigkeit, obwohl er vermutet, daß alle ahnen, daß er ein König ohne Kleider ist? Dieses Stück wird gerade aufgeführt. Die Medienshow ist ein ohmächtiger Versuch zu vertuschen, daß es bei den meisten Parteien nichts zu wählen gibt, daß nur jemand gewählt werden will. Diskussionen von „denen da oben“ – was hat „der kleine Mann“ damit zu tun. Solches (vordemokratisches) Denken schleicht sich wieder ein, weil der Bürger jahrelang verdummt und re-infantilisiert wurde, auch weil die Lücke zwischen dem Image, das Politiker von sich selbst verbreiten, und der Wirklichkeit immer weiter auseinanderklafft.

Auf den ersten Blick muß man dem Bürger, der sich achselzuckend vom derzeitigen politischen Treiben abwendet, sogar Achtung für seinen ungetrübten Realitätssinn zollen. Nur – daß seine rote Karte niemanden vom Platz stellt. Und auch wenn er in passiven Widerstand zur derzeit führenden politischen Klasse geht, bleibt er dennoch Komparse des Trauerspiels, das er nicht aufgeführt sehen will. Denn auf seinem Rücken wird das Gesellschaftsspiel der Altparteien ja ausgetragen, dagegen kann er sich nicht wehren.

In der Französischen Revolution hofften die Menschen, mit und durch die Beteiligung aller, mit und durch Demokratie eine gerechtere, friedlichere Welt für alle zu schaffen. Aber wer verbindet heute noch solche Ideen mit „Demokratie“? Umweltschützer und Dritte-Welt-Aktivisten engagieren sich weit öfter in Nichtregierungsorganisationen als in den Altparteien. Die Demokratie des Grundgesetzes ist in die Jahre gekommen, hat Fett angesetzt, die Füße und Beine werden nicht mehr gut durchblutet, lediglich Tabletten und ein Bypass halten sie äußerlich in Gang.

Wie kann man die Füße wiederbeleben und es schaffen, daß die Demokratie wieder auf die Beine kommt, wie kann man den Bürgern glaubhaft machen, daß Parlament und Regierung die besten Instrumente sein könnten, heute Politik für das Alter der Enkel zu betreiben? Wie kann man die Hoffnung wecken, den Wunsch, die Bereitschaft und die Phantasie, aller schwerfällig-determinierenden globalen Problemvernetzung zum Trotz, Selbstbestimmung, Einflußnahme, Zukunftsgestaltung zu versuchen?

Viele haben mehr Angst vor einer Umweltkatastrophe, vor Enge und Knappheit auf dem Globus als vor etwas weniger Konsumfähigkeit oder vor der Einstellung auf einen anderen Begriff von Entwicklung. Breites Interesse an ökologischen Fragen, vielfache Unterstützung von umweltschützenden Maßnahmen sprechen für sich. Trotzdem gehen bei Wahlen viele denen in die Fänge, die kurzfristige Wohlstandsversprechen machen, die die Sicherheit billigen Benzins vor die Überlebenssicherheit stellen. Hier in Deutschland herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung ein gespaltenes Denken. Wenn die Parteien nicht mehr Mut zum Verkünden der ökologischen und globalen Wahrheit und der notwendigen Konsequenzen entwickeln, wird wohl erst ein spürbares Unglück, ein zweites Tschernobyl, den Effekt haben, daß die Unzufriedenheit mit der Politik der Altparteien sich auch bei den Wahlen niederschlägt.

Weshalb hat sich derart die Wahrnehmung verfestigt, Demokratie, Wahlen seien mit Sicherheit nicht das Mittel, sich Wünsche zu verwirklichen? Wünsche wie eine Zukunft ohne Krieg, ohne Verelendung, ohne allgegenwärtige Kriminalität, Isolation und Umweltkrankheiten, eine Zukunft mit Wäldern und bewohnbaren Städten, mit Nachbarn und Kollegen, die Gefallen an ihrem Leben haben. Oder hat sogar das Wünschen aufgehört?

Drei Aspekte sind wesentlich für den Erhalt einer Demokratie, die diesen Namen verdient und sich nicht bloßen Stimmenfangs zum Machterhalt bedient:

– Demokratische Politik muß von den Menschen wieder als Instrument der Gestaltung ihrer eigenen Zukunft gefunden, genutzt und geachtet werden; daß es erreichbare Alternativen zu Verknappung und Zerstörung gibt, muß dargestellt werden; ein inhaltsloser Wahlkampf schafft keiner Partei die Möglichkeit, nach der Wahl eine Politik wegweisender Konzepte zu verfolgen; im Gegenteil: Nichts treibt die Re-Infantilisierung des Bürgers so voran wie die Wahlplakate der CDU, die nur auf Kohl setzen, ein Kanzler ohne Programm; die De-Intellektualisierung des Wahlkampfs, die Extrahierung der Themen sind Zeugnis eines politischen Verständnisses, das den Bürger, den Wähler als aufgeklärten Souverän gar nicht ernst nimmt;

– der Bürger muß sich seiner Bedeutung wieder bewußt werden, seiner Aufgabe und Verantwortung; mit der Abgabe seiner Stimme für die eine oder andere Partei entscheidet er mit darüber, ob auch künftig im gleichen Maße wie bisher Natur zerstört wird, Egoismus über die Rechte des Südens, über die Rechte der nächsten Generation triumphiert; nicht Untertan der Regierung, sondern er ist Arbeitgeber, Dienstherr der Politiker, hat das Recht, Konfliktbereitschaft und Leistung von ihnen zu fordern;

– Parteien werden, wenn sie vor diesem aufgeweckten Bürger bestehen und überleben wollen, von Bürgerinitiativen lernen, achten müssen, was Demokratie bedeutet: Auseinandersetzung mit unserer eigenen Lebenssituation, fortlaufende gegenseitige Weiterbildung. Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, den Folgen des eigenen Tuns und Versäumens ist unverzichtbar, wenn die Altparteien die Demokratie, das demokratische Bewußtsein der Bürger, nicht vollends ruinieren wollen. Stefanie Christmann

Die Autorin arbeitete als Referentin im Planungsstab des Bundespräsidalamtes und schied mit Ende der Amtszeit von Richard von Weizsäcker aus dem Amt aus.