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Rätselraten um die Seele der Ossis

■ Nach der Bundestagswahl sind Bündnis 90/ Die Grünen ratlos, die CDU schielt in den Westen, und die SPD freut sich

Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen, Wolfgang Wieland, saß gestern nachmittag im Abgeordnetenhaus schweren Hauptes über den Ergebnissen zur Bundestagswahl und versuchte, sich „in die Köpfe der Ossis hineinzudenken“. Nicht so sehr das seiner Ansicht nach „relativ gute“ Abschneiden seiner Partei in Berlin mit 10,2 Prozent machte ihm zu schaffen, sondern die Niederlage in Brandenburg. Die dort erzielten 2,9 Prozent seien ein „katastrophales Ergebnis“.

Die einzige Partei, die sich als „strahlender Sieger“ darstellen könne, sei die PDS, konstatierte Wieland. Seine Schlußfolgerung: „Wir müssen uns mehr in die sozialen Bewegungen im Osten einschalten.“ Ökologie, Demokratie oder Zivilisierung der deutschen Außenpolitik seien offenbar nicht die vordringlichsten Themen im Osten. „Dort ist es wichtiger, ob jemand einen Job hat, und sei es bei der Bundeswehr“, brachte Wieland das Dilemma seiner Partei auf eine Kurzformel.

Der Geschäftsführer der Fraktion, Jürgen Wachsmuth, wollte den Kopf trotz der Stärke der PDS nicht hängenlassen. Nach wie vor gebe es in Berlin die Möglichkeit einer rot-grünen Koalition. Allerdings unter der Voraussetzung, daß die SPD „ein paar Punkte“ zulege. Denn was nütze Bündnis 90/ Die Grünen im nächsten Jahr bei den Wahlen ein Ergebnis von „10 bis 15 Prozent“, wenn die SPD nicht deutlich über die jetzigen 34 Prozent hinauskomme.

Die Abgeordnete Renate Künast freute sich gestern über das gute Abschneiden von Bündnis 90/ Die Grünen in Westberlin. Das sei „fast wie in alten Zeiten“ gewesen. Die zentrale Frage laute aber, wie es im Osten weitergehe. Im Hinblick auf die Abgeordnetenhauswahlen sei nicht die PDS, sondern die eigene Positionsbestimmung ihrer Partei das „größte Problem“. Man müsse sich selbstkritisch fragen, „wohin wir uns entwickelt haben“. Künast mahnte in diesem Zusammenhang eine Grundsatzdebatte an, auch auf die Gefahr hin, „mich dadurch unbeliebt zu machen“. Der Ostprominenz warf sie vor, zu sehr auf Vergangenheitsbewältigung gesetzt und über schwarz-grüne Optionen nachgedacht zu haben. Ein Teil habe sich beim Stasi-Thema geradezu „von der CDU und ihrem Medienanhang“ funktionalisieren lassen. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit solle nicht beendet werden, meinte Künast. Aber darüber dürften aktuelle Themen nicht vernachlässigt werden: „Wer sich mit der Stasi beschäftigt, der darf nicht die Sicherheitsdienste des Westens vergessen.“

Bei der CDU, die gegenüber der letzten Bundestagswahl rund acht Prozent verloren hat, herrschte gestern gedrückte Stimmung. Für den parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer Dieter Hapel stand fest, daß „wir nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen können“. Eine Personaldiskussion schloß der CDU-Politiker aus. Die Partei müsse sich aber fragen, ob „sie in Ost und West das richtige Profil entwickelt hat, mit welchen Führungspersonen auch immer“.

Für die Zukunft forderte Hapel eine „bürgernähere Politik“ im Westen. Zu lange habe man sein Augenmerk auf den Ostteil der Stadt gelenkt. Seine Partei habe im Westen noch keine „Antwort auf die Probleme der Arbeitnehmer“. Hier müßten „neue Handlungskonzepte“ her, ohne die Schwierigkeiten im Ostteil der Stadt zu vernachlässigen.

Die Sozialdemokraten, die als stärkste Partei in Berlin aus den Wahlen hervorgegangen waren, frohlockten gestern über das schlechte Abschneiden ihres Koalitionspartners. SPD-Landesgeschäftsführer Rudolf Hartung nannte das Ergebnis der CDU „katastrophal“. Er erwarte, daß sich der Konflikt innerhalb der Christdemokraten über den Umgang mit Ostberlin zuspitze. Viele hätten den Ostteil der Stadt schon aufgegeben und wollten sich „hinter die westliche Demarkationslinie zurückziehen“. Severin Weiland

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