Nicht die Staatsgrenze, nur der Volkswille gilt

Über die Geburt der Nation aus dem Geist der Demokratie wollte der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka in Deutschland reden – bevor ihm Nigerias Militärjunta die Ausreise verbot. Auszüge des nicht gehaltenen Vortrages  ■ Von Wole Soyinka

Wann ist eine Nation? Diese Frage drängt sich neuerdings auf – nicht nur für unseren Kontinent, sondern weltweit durch die Suche nach Stabilität innerhalb dessen, was als nationale Grenzen und als Sicherheit im täglichen Kontakt zwischen Nachbarn gilt. Die Frage könnte auch anders formuliert werden. Zum Beispiel: Was kostet eine Nation? Die brutale Vernichtung einer halben Million Menschenleben, innerhalb des billigen Zeitraums eines kurzen Monats, zu keinem erkennbaren Zweck außer dem der Rache – einer auch opportunistischen Rache, weil sie das unerklärte Ziel der Schaffung einer ruandischen Nation reiner Hutu- Abstammung birgt? Welche Sitten definieren eine Nation? Welche Maßstäbe?

Was heißt für den einzelnen der Anspruch „Ich gehöre dieser Nation an“, und wann begann er, etwas zu bedeuten? Das sind unausweichliche Details der Frage in der von mir benutzten, als summarisch gedachten Version. Kurz: Wann sind alle Bedingungen einer Nation erfüllt? Bestehen sie objektive Tests? Oder ist eine Nation bloß ein kollektiver Geisteszustand? Oder Wille? Ein erzwungener Zustand, die Objektivierung eines einzelnen Willens? Eine passive Gewohnheit des Zusammenlebens? Oder ein fester Endpunkt der Geschichte?

Wir dürfen nicht einmal vor der Möglichkeit zurückschrecken, daß eine Nation in ihren praktischen Vorteilen für ihre Bewohner ein bloßer Gefühlsbegriff ist. Oder daß die einzige harte Tatsache, die einem Gemeinwesen den Status nationaler Souveränität verleiht, das Recht der Reisepaßausstellung ist. Wir könnten die Sache noch vereinfachen und uns auf die Gegenwart beschränken, auf die Klubmitgliedschaft der Vereinten Nationen – wenn diese Organisation dich in ihre Reihen aufnimmt, verleiht dir das nicht den Status einer Nation? Aber was ist dann mit Apartheid-Südafrika – hörte es auf, eine Nation zu sein, als es aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen wurde?

Die Buren hätten in diesem Zusammenhang einiges zu sagen, was mit der Position der unterdrückten schwarzen Mehrheit zweifellos unvereinbar wäre. Der Status der Nation könnte sich daher als komplizierter erweisen als die verwirklichte Souveränität irgendeiner nicht notwendigerweise homogenen Menschengruppe, denn wenn – wie im letzten Beispiel – eine erkennbare Minderheit die Staatsmacht ausübt und die nationalen Reichtümer kontrolliert inklusive des besten Landes, was die Mehrheit ausschließt und von ihr angefochten wird, dann kommen wir an der subjektiven Wirklichkeit eines nationalen Wesens nicht völlig vorbei. Als passende Beschreibung bietet sich das Bild zweier menschlicher Körper in unbehaglichem Zusammenleben innerhalb eines Hemdes an. Selbst wenn ein solches Phänomen, wie bei siamesischen Zwilligen, als Naturereignis erscheint, wissen wir, daß oft der Chirurg als Schiedsrichter herbeizitiert wird. Wir geben natürlich zu, daß dies nicht immer so sein muß, wie das Wunder dieses selben Südafrika zeigt.

Die geographischen Bedingungen sind leider nicht die Antwort. Zuerst gab es Indien, und es umschloß das heutige Pakistan, das nach seiner Wahl eines unabhängigen Weges in unangenehmer Weise vom verbleibenden Rest Indiens in zwei Teile zerschnitten blieb. Bevor es selber in das heutige Pakistan und Bangladesch zerfiel, schien Pakistan sich für eine Nation zu halten und wurde von anderen als eine solche akzeptiert, obwohl die Masse Indiens es entzweiriß – Ostpakistan und Westpakistan. In dieser Epoche zumindest wurde der Anspruch, ein nationales Gebilde zu sein, vom Faktor geographischer Teilung nicht merkbar beeinträchtigt.

Der Aufbau einer Nation von oben – was ich vorher als Objektivierung eines einzelnen Willens oder dem einer Handvoll einzelner beschrieb – scheint nie lange zu halten: Man denke an die blutrünstige Konfrontation Nord- und Südjemens. Volksentscheide – echte Volksentscheide – scheinen da mehr Chancen zu haben. Wir haben das erfahren können, als eine Scheibe von Ostnigeria sich für den Anschluß an Kamerun entschied – sie ist noch heute ganz klar ein Teil Kameruns, und was für Zweifel die Bevölkerung vor einigen Jahren auch immer daran gehegt haben mochte, ein einziger ernsthafter Blick auf den Zustand der nigerianischen Nation würde sie heute davon überzeugen, daß sie damals tatsächlich eine sehr weise Wahl getroffen hat.

Aus dem Kontrast zwischen Nation-Flicken von oben und von unten – als Ausdruck des Willens von Völkern verstanden, auch unvollkommen ausgedrückt – will ich folgende Lehre ziehen: Die letztere könnte uns einen Hinweis auf unsere zentrale Frage liefern – wann ist eine Nation? Könnte es sein, daß eine Bedingung dieses zuweilen emotionalen Streitpunkts in einer Willensbekundung der die Nation wirklich ausmachenden politischen Gemeinschaft besteht?

Natürlich gibt es viele Wege, solch eine Entscheidung zu erreichen; es ist tatsächlich sogar möglich, daß ein solcher Wille nicht durch einen formalen, strukturierten Prozeß – wie ein Volksentscheid – herbeigeführt wird. Ein politisches Gebilde, das für einen nennenswerten Zeitraum eine gemeinsame Flagge anerkannt hat, eine gemeinsame Hymne, einen Wahlspruch oder einen gemeinsamen Schwur für feierliche oder bildende Gelegenheiten angenommen hat; eine politische Gemeinschaft, die einheitlich ihren kollektiven Sinn für Verhältnismäßigkeit verliert, wenn ihr Fußballteam in die Schlacht zieht; die einen Krieg oder zwei gemeinsam besteht, ihre wirtschaftlichen Ressourcen per Konsens zusammenwirft und verteilt, auch wenn ihr Verteilungssystem zuweilen angefochten wird; ein Gebilde, das einen gemeinsamen Reisepaß bietet – ich wiederhole: Eine Gemeinschaft, die für einen nennenswerten Zeitraum ihre Geschäfte innerhalb dieser vereinenden Tugenden oder Unvernünftigkeiten führt, solch ein Gebilde darf man getrost per offenkundigem Status quo für eine Nation halten. Niemand stellt den Status von Frankreich, Schweden, Japan, Ghana, Sambia oder Portugal als Nationen in Frage.

Wenn wir unsere Beispiele auszuweiten versuchen, stoßen wir jedoch auf ärgerliche Komplikationen. Marokko zum Beispiel. Ist Marokko eine Nation? Vor ein oder zwei Jahrzehnten hätte eine solche Frage unmöglich geklungen, aber seit diese Nation sich die einstige spanische Sahara abgegriffen hat, müssen wir fragen, wo genau die Nation Marokko liegt. Offensichtlich kann es nicht jener geographische Raum sein, der das von der Polisario beanspruchte Gebiet einschließt. Und die Türkei? Die Kurden haben in den letzten Jahren den Nationalraum dieser Nation auf militante Weise in Frage gestellt. Tatsächlich haben die Kurden dem Nationalanspruch nicht nur der Türkei, sondern auch des Irak und Iran und einer oder zwei der neuen Nationalstaaten der einstigen UdSSR Risse zugefügt. Diese Angelegenheit ist für unsere Suche viel ernster. Nicht nur streiten die Kurden um eine autonome oder halbautonome Existenz innerhalb dieser Länder, sie sind in ihre eigene Geschichte zurückgegangen und haben sich wieder zur Nation erklärt.

Wir erreichen jetzt, wie inzwischen klar sein muß, die Möglichkeit nicht der Entdeckung, sondern der Wiederaneignung einer gewissen historischen Wahrheit: daß der Status der Nation nie ein absoluter oder eine Konstante gewesen ist, daß er immer der Konfliktpolitik, der Interessenpolitik, der Bündnispolitik, der Machtpolitik und sogar der Zufallspolitik gefolgt ist.

Wir wissen, wie die Ölstaaten des Nahen Ostens entstanden – eine Tatsache, die Saddam Hussein nicht übersah, als er in sein Mißgeschick aufbrach und Kuwait als Bestandteil des Irak beanspruchte. Jemen, Saudi-Arabien, Katar, Jordanien und so weiter – sind sie wahrhaftig Nationen? Oder anders ausgedrückt: Könnte man behaupten, daß sie immer Nationen waren, wenn auch unter anderem Namen, definiert durch einen anderen, unter dem europäischen Imperialismus verächtlich gemachten und dann rehabilitierten Begriff, natürlich mit einigen Korrekturen?

Wenn Sie die verschiedenen Eigenschaften prüfen, die wir als Kernpunkte der Definition eines Staates aufgelistet haben – und ich benutze den Begriff Staat im weiten Sinne –, finden wir vielleicht, daß die sogenannten Stammeskönigtümer oder Klanfürstentümer, die später durch europäische imperialistische Konstrukte ersetzt wurden, tatsächlich den Status der Nation erfüllen. Sogar in dem Maße, in dem sie Anerkennung für ihre Reisepässe erwarben – oder Passierschreiben, die als Reisepässe dienten – denn was ist überhaupt ein Reisepaß außer der Aufforderung, dem Träger freies Geleit und Schutz zu bieten auf Geheiß irgendeiner Macht, die über den Träger des Dokumentes die Hoheit innehat?

Die einstige Union der Sowjetrepubliken spielte unter ihrer kommunistischen Struktur ein höchst faszinierendes Spiel mit ihren Nationalitäten. Diese verschiedenen Gebilde – Georgien, Rußland, Usbekistan und so weiter – existierten als einzelne Nationen und wurden als solche anerkannt – eine Konstruktion, die der UdSSR in der UNO ein paar Stimmen mehr als den USA verlieh. Innerhalb der Sowjetunion wissen wir jedoch, daß sogar während der monolithischen Herrscherzeiten Lenins und Stalins „die Eingeborenen unruhig waren“. Unbarmherzig wie die Unterdrückung nationalistischen Begehrens auch war, mußten von Zeit zu Zeit Zugeständnisse gegenüber solchen Regungen gemacht werden, insbesondere in den Bereichen der Kultur und der Sprache. Man mußte unvorbereiteten Besuchern der Sowjetunion nicht erklären, daß es verschiedene Nationen innerhalb des eisern verbundenen Kollektivs gab – sogar zwischen Moskau und Leningrad waren die Unterschiede, wie man sagt, klar. Und wenn Sie sich in den mehr asiatischen Staaten befanden, durch den Markt von Samarkand schlenderten, bedurfte es nicht Ihrer romantischen Erinnerung an Fleckers „Hassanto“, um Ihnen deutlich zu machen, daß Sie im Vergleich zu dem, was Sie in Moskau hinterlassen hatten, in eine andere Kultur und ein anderes Volk eingetaucht waren, sogar in eine andere Zeit.

Es war nicht nur eine Frage der natürlichen Unterschiede zwischen einer Hauptstadtkultur und den ländlichen Regionen; nein, die Landschaft selbst – trotz ihrer Verunstaltung durch die vorhersehbaren Konstruktionen zentralisierter Parteiarchitektur, die eintönigen Bahnhöfe, zusammengewürfelten Rathäuser und Sportpaläste, die der Kunst und der Volkskunst zugestandenen freudlosen Arenen, die vom Beamtentum aufgezwungenen „korrekten“ Haltungen und blutleeren Kontakte – das authentische Gesicht Samarkands überspielte diese oberflächlichen Leiden, und Sie erfuhren eine nationale Realität, die sich von der Kiews, Tbilissis oder sogar des wunderschönen Leningrads unterschied.

Schlagen wir also vor, daß das Wesen einer Nation mit „Seele“ zu tun hat, daß eine Nation ihr Seinszeugnis nicht erst durch unsere Erfahrung einer fühlbaren Einzigartigkeit, eines nicht benennbaren

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Charakters erhält? Ich bezweifle, daß die mystische Dimension irgend jemanden befriedigen wird, doch sie ist weder vernachlässigenswert noch unmeßbar.

Was auch immer die Eigenheiten dieser und Dutzender anderer unbekannterer Szenarien sein mögen – irgendwann stoßen wir auf ein ernüchterndes caveat: Ist es tatsächlich je möglich, aus dem sicheren Reich unserer intellektuellen Distanz irgendeinem dieser Ausdrücke des Willens zur Nation etwas vorzuschreiben? Jede Berufung auf unverletzbare, universalgültige Gesetze der Spaltung, des Zusammenhalts und der Assoziation ist leer; denn ihren Folgerungen wird ständig von der sehr realen, nicht abstrakten Menschheit innerhalb dieser Räume widersprochen. Jeder Raum, der in einem souveränen Anspruch Menschheit umschließt, ist in mindestens einem Dutzend Aspekten einzigartig, und daher kann kein einzelnes Gesetz, kein einziger Kriterienkatalog Ansprüche auf nationale Unabhängigkeit mit „Stattgegeben“ oder „Nicht stattgegeben“ beantworten. Sollen wir annehmen, daß Eritrea ein Verbrechen gegen das Universalgesetz begangen hat? Oder ist Süd-Sudan zu ewiger Verdammnis im Jenseits der Nationen verurteilt, wegen seines dreißig Jahre alten Krieges für separatistisches Streben?

Ist der heutige Sudan überhaupt eine Nation? Das sollte die eigentliche Frage sein, oder es ist zumindest ein Zugang zu einem umfassenden Verständnis des sudanesischen Bürgerkrieges. Die Hartnäckigkeit, mit der ein Krieg fortgeführt wird, seine Dauer, die Opferbereitschaft der Bevölkerung, all dies kann nicht – ich muß hinzufügen: sollte nicht – der Maßstab sein, an dem wir die Bereitschaft zur Nation messen, aber es muß sicherlich in unserer Einschätzung eine Rolle spielen. Andere Faktoren wiegen genauso schwer, aber niemand kann bestreiten, daß Mut, Entschlossenheit, Leiden und Heldentum in uns etwas bewegen.

Wenn diese Eigenschaften, die das südsudanesische Volk reichlich darbietet, bei der Berücksichtigung anderer Faktoren – religiöse, rassische, ökonomische – nicht den Ausschlag geben, dann ist unsere Menschlichkeit gestorben, dann sind wir Sklaven luftiger Abstraktionen, windiger Begriffe die nicht im Boden gründen, auf dem wir stehen, in seinen Produkten, in der einzigen bekannten Spezies, die die Ressourcen der Erde bebaut, ausbeutet und vergrößert. Zwischen der Schöpferhand und dem Schöpferprodukt dieser Hand, zwischen dem kreativen Geist und und dem von diesem Geist geborenen Gedanken kann es keinen Streit darüber geben, wer primär da war und daher primäre Ansprüche hegt.

Wenn die als Sudan bekannte Staatengrenz-Dauerblutung unsere Verpflichtung gegenüber der Menschlichkeit verletzt, müssen wir quer zu hergebrachten Orthodoxien denken. Das Prinzip der Unverletzlichkeit nationaler Grenzen ist eine Fiktion, geboren aus nichts Wesentlicherem, als es der Glaube ist und daher für uns Bewohner der vernünftigen Welt genauso fragwürdig. Und sogar jene, deren Existenz vom Glauben begrenzt ist, besonders dem der religiösen Art, schrecken vor spezifischen Grenzen für die Provinzen des Himmels, der Hölle oder des Purgatoriums zurück. Die werden streng der Phantasie überlassen, frei zur Anpassung je nach der Bevölkerungsverteilung im Jenseits.

Als Satan den Kräften Gottes sein Übernahmeangebot machte, war das schließlich ein Versuch zur Vereinigung der himmlischen Provinzen – wenn man Miltons Schliderung in „Paradise Lost“ Glauben schenken darf. Dies erwies sich jedoch als ein Fall, in dem das Einheitsprinzip sich nicht als populär erwies: die Kulturen, Sitten und Moral von Himmel und Hölle waren einfach inkompatibel, und ein Krieg der Identitäten wurde von der Seite des angeblich Guten gewonnen, während die Bösen, Verfechter der Einheit, schmählich verloren.

Offensichtlich ist der Begriff der Vereinigung um ihrer selbst willen und um jeden Preis sogar im Reiche der Metaphysik widerlegt worden – wo sollen wir also in diesem gesamten Universum die Philosophie vom Ganzen und vom Teil finden, die dem einen und nicht dem anderen unverrückbare Autorität zueignet? Die Antwort ist: Nirgends. Gar nirgends. Es sind wir, die Bewohner des Ganzen oder des Teils, die entscheiden müssen, ob es in unserem kollektiven Interesse liegt, zusammenzubleiben oder auseinanderzustreben. Und wir können nur beginnen mit einem Rückgriff in die Geschichte, die Lebensqualität der Gegenwart und die greifbaren Vorteile wie auch die möglichen Projektionen der Zukunft, verwurzelt in den Realitäten von heute in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit.

Wenn ich daher irgendeine salbungsvolle Stimme erklären höre, die Einheit Nigerias sei nicht verhandelbar, wittere ich verwaschenes, opportunistisches Denken. Was der Redner sagt, ist: Mir und den Meinen kommt es gelegen, Nigeria als Einheit zu belassen. Im Absoluten gibt es für eine solche Erklärung keine Begründung, nicht die geringste. Wenn nun aber – und hier kommen wir dem, was eine Nation zusammenhält, sehr nahe – eine offensichtliche Pluralität solcher Stimmen von wie auch immer divergierenden Interessen aus auf einen Punkt konvergiert, beginnen wir, die Möglichkeit einer solchen politischen Gemeinschaft als eine im Entstehen begriffene Nation zu spüren.

Sogar am gewalttätigsten Tag der Anti-Babangida-Unruhen in Nigeria, im Tumult der Tausende, die mein Auto überfluteten, auf ihm saßen, tanzen und trommelten, klang zuweilen eine Stimme heraus mit den Worten: „Laßt uns unseren eigenen Weg gehen. Warum sollten uns andere zurückhalten? Wer von Soldaten regiert werden möchte, soll zu ihnen gehen. Wir schaffen es allein“, und so weiter. Alles sehr emotional, geboren aus tiefster Frustration – aber man darf solche Stimmen nicht als Produkte eines abnormalen Augenblicks abtun. Sie waren ein Ausbruch, Summe der Argumente aus Büros, Marktplätzen, Parkplätzen, Klassenzimmern und Debattiersälen. Sie waren eine Fortsetzung von Diskussionen, die 1960 und vielleicht noch früher begonnen hatten.

Die Sprache der Unverhandelbarkeit muß aufhören. Sie muß aufhören, denn sie dient der Verhinderung einer Konfrontation mit genau den Themen, deren Lösung einzig unser Fortbestehen als Nation garantieren kann. Das Militär erklärt zum Beispiel seine Verpflichtung, die Nation zusammenzuhalten. Sehr gut. Aber was ist, wenn bewiesen werden kann, daß jede Handlung der Militärs an der Regierung die Nation in die Gegenrichtung gesteuert hat? Was kostet eine solche Verpflichtung? Der Brustton dieser Rhetorik dient einzig und allein dem Recht der Militärs, zu tun, was sie wollenm, jede Politik anzunehmen und auszuführen, egal wohin sie führt. Ein Jagdhorn, das die Nation zu seiner Mission des Zusammenhalts der Nation aufruft, bringt dann die Warnungen, daß die Handlungen der Militärs zu ihren glorreichen Zielen im Widerspruch stehen, zum Schweigen.

Man darf die Machtbesessenen in ihren machiavellianischen Fähigkeiten niemals unterschätzen. Nehmen wir den 12. Juni [12. 6. 1993, Tag der später vom Militär annullierten Präsidentschaftswahlen – Anm. d. Red.]. Niemals war eine Situation besser auf ewige Militärherrschaft zugeschnitten. Man versucht eine Wahl, das Ergebnis ist Chaos, und wie reagiert das Militär? Es sagt: Landsleute, es bricht uns das Herz, wir wollen eigentlich in die Kasernen zurück, aber das Land ist dabei auseinanderzufallen und wir haben geschworen, die einheitliche Souveränität dieser Nation zu verteidigen. Wir werden ein neues Übergangsprogramm verkünden, sobald wir hier ein bißchen Indisziplin und dort ein bißchen Korruption ausgemistet haben.

Was für ein scheinheiliges Gerede! Was für eine kalkulierte Heuchelei! Und wir werden weiterhin in solch offensichtliche Fallen stolpern, wenn wir nicht lernen, unsererseits zu antworten: Laßt uns selber entscheiden, was unverletzlich ist und was nicht, und erst mal steht ganz oben auf unserer Liste der Wille des Volkes. Er ist unverletzlich. Ohne ihn gibt es keine Nation, sondern nur ein Militärcamp. Was uns betrifft, genügt es, unsere Präferenz zur Fortsetzung unserer Nation festzustellen – nicht einmal, sie zu begründen, sondern einfach, sie zu erklären. Und wir müssen solch eine Präferenz im Eigeninteresse gründen, dem gemeinsamen Nenner, dem gemeinsam spürbaren, identifizierbaren Faktor der vielen Wahlmöglichkeiten, auf die sich die Gesellschaft geeinigt hat.

Wann ist eine Nation? Viele würden sagen, diese Frage ist im Falle Nigerias gar nicht so schwer zu beantworten – für viele erfüllt ein Vereinigungskrieg oder ein Krieg gegen Sezession gefolgt von Versöhnung, Wiederaufbau und all den anderen Begriffen im Choralbuch der Nationalen Harmonie alle die Bedingungen, und so wären wir natürlich für den Status der Nation überqualifiziert. Aber wir wissen, daß es nicht so einfach ist – und wer will schon in den Krieg ziehen, wenn es sich vermeiden läßt, bloß um sich das Zeugnis der Nation zu verdienen? Und es muß nicht extra gesagt werden, daß Krieg nicht einmal das ersehnte Nationwesen garantiert. Die portugiesischen Kolonien, jetzt traurigerweise durch inneren Streit entnationalisiert – vor allem Angola und Mosambik – waren unter portugiesischer Herrschaft, also während des Befreiungskampfes, mehr Nationen-gleich als heute. Direkt unter den repressiven Strukturen der Portugiesen, unter den Wehen des Krieges, bauten sie eine Nation. Sie hatten eine Regierung – eine Buschregierung, mit rudimentären Strukturen, Gesundheits- und Bildungsprogrammen, aber dennoch eine Regierung. Süd-Sudan scheint nicht so erfolgreich gewesen zu sein, wie es in Guinea- Bissau, Angola oder Mosambik der Fall war. Das finde ich schade, denn die Geschichte, die Mühen und die Tapferkeit dieses vergessenen Volkes verdienen es, daß wir ihnen zumindest in unserer Begrifflichkeit den Nationenstatus zuerkennen.

Aber wie wir schon gesagt haben, ist Krieg nicht notwendigerweise der Weg. Ein Volk kann seine Bereitschaft verkünden, sich zu einem gemeinsamen Gebilde zu formen oder den Quantensprung in diesen Status zu vollziehen, und damit sowohl die eigene Skepsis wie die Erwartungen auswärtiger Skeptiker enttäuschen. Eine einzige Tat kann eine plötzliche völlige Umwälzung ausmachen, obwohl natürlich auch dieser Quantensprung aus einer Folge mehrerer Bewegungen besteht, Rückschläge eingeschlossen, und aus den begleitenden Veränderungen in der Psychologie des Volkes. Was eintritt, ist ein unvorgesehenes Zusammenspiel der Interessen, ein dramatischer, meist emotionaler Moment beispielloser Bereitschaft, oft an eine charismatische Führung gerichtet. Sekou Tourés Guinea zum Zeitpunkt des non zum Ultimatum von Charles de Gaulle war ein denkwürdiger Fall solch einer Umwälzung.

Aber es muß nicht so dramatisch sein. Der Quantensprung oder eher der Quasi-Quantensprung kann mit den alltäglichsten, unfeierlichsten Mitteln vollzogen werden. Zum Beispiel mit der Wahlurne. Und das war in Nigeria der Fall – am 12. Juni 1993. Ein Mangel an Feierlichkeit, an Aura, bedeutet keinen Mangel an heroischem Willen. Die Leistung des nigerianischen Volkes an diesem Tag war ganz sicherlich eine Tat heroischer Dimension. Und wenn es damals nicht möglich war, dieser merkwürdigen Geburt einen Namen zu geben, begann sie ganz sicherlich, sich zu definieren, als das Wahlergebnis einrollte und die Nation wußte: Hier geschieht ein Wunder.

Die Feinde seiner Geburt versuchten, ihm die Nabelschnur um den Hals zu legen und seine Geburtsschreie zu unterdrücken, aber es wollte sich kein Schweigen einstellen. Sie versuchten, dem wartenden Volk einen Fötus vergangener Wehen zu präsentieren, die Fehlgeburt eines langerwarteten Moments zu beweinen. Aber niemand wurde getäuscht.

Übersetzung: Christoph & Lore Ludzuweit, Dominic Johnson