Gespenster und Wiedergänger

Spielzeitbeginn am Hamburger Schauspielhaus: Anselm Weber mit der Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“ und Marlowes „Jude von Malta“ und Jossi Wieler mit der Uraufführung von Gundi Ellerts „Josephs Töchter“  ■ Von Lore Kleinert

Tote und Untote zum Saisonstart in Hamburg: Wenn Lessings weiser Nathan und Barabas, Marlowes Jude von Malta, sich in Anselm Webers Doppelinszenierung zum letzten Mal begegnen, ist der, der jede Attacke seiner Feinde mit unbändiger Tatkraft parierte, tot. Der andere, dessen aufgeklärte Gedanken gekrönten und anderen Häuptern dienlich waren, konnte nur seine Haut retten. Die märchenfernen Palmen sind längst versunken, ebenso wie der gewaltige Prospekt von Maltas Festungsmauern und -gräben mit Ausblick aufs gemalte Meer. Gleich zu Beginn setzen Anselm Weber und Raimund Bauers Bühnenbild mit der brennenden Bibliothek rechts und links von der schiefen, spitz in den Zuschauerraum ragenden Spielfläche ein deutliches Zeichen. Zwar wird Nathans Tochter vom jungen Tempelritter aus den Flammen errettet, doch der Feuerschein brennt ins Gedächtnis ein: Die Welt ist in die Schieflage geraten und auf die Maße eines Zwischendecks geschrumpft, unrettbar. Nathan zückt den Scheck, den keiner will, und Barabas, der dicke Lebemann im wattierten Mantel, schmeißt mit Geldbündeln um sich; die brennenden Bücher prägten das Wissen um die Vergeblichkeit des Sich-Freikaufens längst ein und um die Verzweiflung dieser Geste, die den Weisen und den Wüsten über die Jahrhunderte hinweg verbindet.

Die Nähe dieses Wagnisses, Lessing und Marlowe aufeinanderzuhetzen, zur zweiten Premiere – Gundi Ellerts „Josephs Töchter“ im Malersaal zeigt, wie klug und riskant die neue Spielzeit im Schauspielhaus auch diesmal wieder eingeleitet wurde. Tote und Untote auch hier: Um „den Krieg zu beenden“, hat Joseph, Lehrer und Humanist wie sein Vater, seine fünf Töchter an die riesige steinerne Tafel unterm Fliegenfänger in das Haus geladen, das früher ihm gehörte. Joseph Bierbichler als Joseph beschwört mit traumwandlerischer Selbstverlorenheit Gespenster; unter hauchdünner jovialer Schicht lauert der Schießbefehl, den er im Krieg erlernte, bereit, sich jederzeit und bei jeder Schwäche Bahn zu brechen und dennoch unauflöslich verbunden mit dem kleinen Jungen, der in grauer Vorzeit geschlagen und verlassen wurde. Jossi Wielers Inszenierung entfesselt die Gespenster und demonstriert völlig unangestrengt ihr höchst reales Wiedergängerleben, in der Boshaftigkeit und Beschädigung jeder einzelnen seiner Töchter, und der mitunter wie in Beton erstarrte Mann treibt sein Kriegsspiel vom Verlassen und Verletzen mit ihnen. Die Damen in den Faltenröcken und Strickwesten überziehen einander mit Gift, die eine saufend, die andere ihre Schwestern siezend und triezend, die dritte panzerhaft beherrscht, die vierte besserwisserisch, und nur die jüngste, von Vater und Schwestern ausgegrenzte, läßt die tödliche Verletzung spüren. Marlen Diekhoff, Marion Breckwoldt, Angela Schmid, Annelore Sarbach und vor allem Elke Lang als rotweinunselige Hanna buchstabieren das Alphabet von Gewalt und Hilflosigkeit, eigener Unterwerfung und Zerstörung anderer böse und genau – Golden Girls mit tiefschwarzem Witz, und der Weg vom verletzten Kind zum schmerzlosen Monster hat viele Facetten. Gundi Ellerts Stück mit seiner kunstvoll gestelzten und oft zielsicher abrutschenden Sprache bleiben in dieser Inszenierung die allzu naheliegenden, schlichten Beweisführungen und Kurzschlüsse erspart. Für Joseph, bedroht und aus dem Gleichgewicht gebracht von der Figur eines kleinen Jungen, der ihn verfolgt, gibt es keine einfachen Lösungen. Er und seine Töchter bleiben verzweifelt eingemauert in ihre Geschichte und ihr tödliches Leben.

Hier stellt sich die innere Verbindung beider Theaterprojekte her: Auch Anselm Webers mitunter noch unvollkommene Verschränkung von Rächerdrama und Versöhnungsgedicht lenkt den Blick auf Wunden, die nicht heilen. Ihre Längen und Halbherzigkeiten, möglicherweise aus Respekt vor Lessings theatralischem Koloß entstanden, sind zweitrangig und bestenfalls Stoff für Kritiker untereinander, denn das Wagnis dieser Begegnung zündet, weil der Kern Lessingscher Vernunft aufgesprengt wird. Anselm Weber greift tief ins Arsenal von Slapstick und Grand Guignol, doch es hätte der „Juda verrecke!“-Rufe der antisemitischen Meute, die mit Taschenlampen grelle Schneisen in den Zuschauerraum wirft, nicht bedurft, um zu begreifen: Dieser Nathan (Walter Kreye) läßt in seinem lakonisch-resignierten Bemühen um politische Korrektheit die Botschaft der brennenden Bücher nicht vergessen. Gegen Barabas' grelle, moralfreie Welt, in der das Blut in Strömen fließt, behauptet er sich, wenngleich sich diese Wirkung eher im nachhinein zeigt und nicht in jedem Moment der Inszenierung. Auf Maltas Sklavenmarkt setzt Barabas die Reize seiner mit Goldlamé garnierten Tochter skrupellos ein, um sich zu rächen, und hier, „ganz unten“, spielen die kleinen Leute – Huren, Zuhälter und Diener – ihre kleinen Spiele, erpressen und saufen und räsonieren so gezielt sprachverkrüppelt, daß sie manch modernem Mundart-Kabarettisten die Show stehlen könnten. Ihr begnadeter Mittelpunkt, Maltas Jude, fett, flink und furchtlos (Josef Ostendorf), büßt die schöne Tochter genauso ein wie Nathan die seine; er vor allem weiß, welchen Preis er für seine erzwungene Ruhe und mühsam behauptete Toleranz zahlt. Seinem vor Zorn explodierenden Bruder Barabas ist er nicht erst dann nah, wenn er seine Leiche fortzuschleppen sucht. Joseph und seinen Töchtern aber bleibt sogar die Gnade dieses engen Spielraums in der Begegnung von Wut und Vernunft verwehrt. Die Gespenster und Wiedergänger, die sie im Griff haben, stehen nicht mehr unter dem Schutz der dramatischen Klassiker. Sie sind unter uns.