Vom Baugerüst ins Bodenlose

■ Sieben Arbeiter stürzten bei Mercedes vom Gerüst / Amtsgericht sprach den Vorarbeiter frei, doch die Hintergründe des Unfalls bleiben ungeklärt

Strafverfahren haben einen großen Nachteil: Sie klären nur, ob die angeklagte Person schuldig ist oder nicht. Zur Wahrheitsfindung im Umfeld der Tat tragen sie oft wenig bei. So auch im Fall von Herbert S., der sich vor dem Amtsgericht wegen fahrlässiger Körperverletzung und Baugefährdung verantworten mußte. S. war verantwortlich für den Aufbau eines Gerüstes in einer Montagehalle im Bremer Mercedes-Werk, als das Gerüst vor drei Jahren einstürzte und sieben Menschen in die Tiefe riß. S. wurde gestern freigesprochen, doch die Verantwortung für den Unfall verliert sich im Dickicht zwischen Mercedes-Benz, den Subunternehmern und dem Bauordnungsamt.

Unstrittig war nur der Hergang der Tat: Ein Gerüstträger brach am 16.10.1991 kurz vor Feierabend, die sieben Handwerker stüzten 10 Meter tief auf Beton und wurden dabei teilweise lebensgefährlich verletzt. Herbert S. war für die Münchner Firma Hortig für den Aufbau des Gerüsts tätig, die wiederum im Auftrag der Firma Faig aus Seewald als Subunternehmer für Mercedes an der Decke der Halle 9 baute. Die Anklage warf H. vor, beim Aufbau des 20.000 Quadratmeter großen Hängegerüstes mit 1700 Holzträgern und 30.000 Bohlenbrettern nicht sorgfältig genug gewesen zu sein: Den Unfall verursachte ein Brett, das entweder morsch war oder durch Bohrlöcher instabil geworden war.

Von diesem Vorwurf sprach das Gericht unter Richter Klaus Richter den Angeklagten frei. S. habe durchaus „die für den Berufszweig nötige Sorgfalt“ walten lassen, er habe die Arbeiter angewiesen, die Planken zu untersuchen und sie auch selbst geprüft. Mit der Tatsache, daß sieben Kollegen nur „durch ein Wunder“ nicht getötet wurden, müsse der Freigesprochene allerdings selber klarkommen.

Denn die Arbeiter stürzten vom Gerüst ins Bodenlose. Vier von ihnen arbeiteten in einer kleinen Firma, die über den Unfall in Konkurs ging und bei der die Gläubiger jetzt Schlange stehen. Andere sind seit dem Sturz Arbeitsinvaliden und haben zehntausende Mark Schulden angehäuft. Bisher haben nämlich die Versicherungen von Mercedes oder den Subunternehmern keinen Pfennig gezahlt. Die Opfer hatten deshalb als Nebenkläger auf eine Verurteilung gehofft, um in den anstehenden Schadensersatzklagen juristisch etwas in der Hand zu haben.

Der Richter sparte in seiner Urteilsbegründung nicht mit Kritik an diesem Zögern der Versicherungen. Auch sonst hat sich im Verfahren niemand mit Ruhm bekleckert. Mercedes weist die Verantwortung von sich, da es sich um Subunternehmer gehandelt hatte; Dabei war das Gerüst ohne die eigentlich erforderliche Genehmigung errichtet und von Mercedes-Sicherheitsingenieuren abgenommen worden. Subunternehmer Faig ließ das Gerüst nach einer Statik von 1988 aus einer anderen Mercedes-Halle errichten und lieferte Gerüstteile, die statt neu bereits gebraucht und möglicherweise morsch waren. Im Bauordnungsamt herrschte Uneinigkeit darüber, ob für Mercedes gelten sollte, was für jeden kleinen Gerüstbauer gilt: Daß nämlich Hängegerüste eine Sondergenhemigung bräuchten. Die Kontrolleure würden bei diesen Fragen „von oben politisch gebremst“, meinte Peter Habedank vom Bauordnungsamt. Sein Chef, Jürgen Müller, bescheinigte der Staatsanwaltschaft im Verfahren zuerst, ein solches Gerüst brauche keine Genehmigung, änderte dann aber seine Meinung und Rechtsauffassung. Jedenfalls gaben die Bauinspekteure an, von dem illegalen Gerüst erst durch den Unfall erfahren zu haben. Die Ordnungswidrigkeit, die das Gerüst darstellte, wurde von der Behörde allerdings nicht verfolgt. Müller war nach seiner Zeugenaussage auf Nachfrage zu einer Stellungnahme nicht bereit. „Es ist schon bemerkenswert, wie sich der Leiter des Bauordnungsamtes aus dieser Frage herausgedreht hat“, meinte Richter Richter in der Urteilsbegründung.

Auch die Staatsanwaltschaft machte im Vorfeld des Prozesses keine gute Figur. Sie stellte das Verfahren erst einmal ein und konnte zur Wiederaufnahme kurz vor Ablauf der Verjährungfrist nur durch eine Dienstaufsichtsbeschwerde des Nebenklägers veranlaßt werden. „Die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft war nicht doll“, meinte Richter.

Die Bilanz: Die Opfer hängen in der Luft, die Verantwortlichen werden nicht benannt, den Zivilgerichten stehen Schadensersatzprozesse bevor. Insgesamt sei es ein Freispruch in einem unbefriedigenden Verfahren, stellte auch Richter fest: „Ein Unwohlsein bleibt, denn hier saß eigentlich nicht der Richtige auf der Anklagebank.“ bpo/aba