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Reicht es aus, Ostdeutschland grün anzumalen? Oder muß man die Menschen dort abholen, wo sie sind? Nach der Bundestagswahl: Thesen zur PDS und zu den Aufgaben von Bündnis 90/Die Grünen im Osten

Das enttäuschende Wahlergebnis von Bündnis 90 in Ostdeutschland hat nach der Bundestagswahl zu heftiger Kritik am Profil der Partei geführt. Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Bündnisgrünen bis auf Sachsen-Anhalt und Berlin aus allen ostdeutschen Landesparlamenten verschwunden. Das miserable Bundestagswahlergebnis hat die Zahl der ostdeutschen Bündnis- Abgeordneten auf bloße fünf reduziert.

Deprimierend auch das Abschneiden in Ostberlin: Bis auf den Bezirk Prenzlauer Berg, wo Bündnis 90/Die Grünen mit über zwölf Prozent der Wählerstimmen nahezu Westberliner Niveau erreichten, glichen die Wahlergebnisse in anderen Bezirken einem Absturz. Während die PDS Rekordergebnisse einfuhr, pendeln Bündnis 90/ Die Grünen bei oder unter fünf Prozent.

Die Ergebnisse haben insbesondere die Westberliner Grünen aufgeschreckt, weil in einem Jahr Abgeordnetenhaus-Wahlen anstehen. Eine Ablösung der Großen Koalition durch ein rot-grünes Reformbündnis hätte bei der gegenwärtigen Ost-Schwäche keinerlei Realisierungschancen.

Die nachfolgenden Thesen beschäftigen sich mit den anstehenden Aufgaben von Bündnis 90/Die Grünen. Die Autoren sind Reinhard Weißhuhn, Mitgründer der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung und Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Gerd Poppe; Uwe Lehmann, Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90 und Erhard O. Müller, Mitglied des Sprecherrats der Bürgerbewegung. Müller stammt als einziger der drei aus Westdeutschland, arbeitet aber seit Jahren für das Bündnis 90.

Die Debatte wird in der nächsten Woche fortgesetzt mit einem Streitgespräch. gn

1. Abgesehen von den frustrierten ehemaligen DDR-Eliten vertritt die PDS erfolgreich die Verlierer der Vereinigung, genauer: die Verlierer des Zusammenbruchs der sozialistischen Planwirtschaft und einer rüden Anschlußpolitik des Westens. Dies ist weniger in materieller als in mentaler Hinsicht ein ernstzunehmender Teil der Ex- DDR-Bevölkerung, der sich in einer Größenordnung von mindestens 20 Prozent bewegt.

2. Die PDS kann dies in einem Land, das sowohl von seiner ökonomischen als auch seiner sozialen Struktur her ein anderes ist als die ehemalige Bundesrepublik. Die Situation der Ex-DDR ähnelt derjenigen im Westdeutschland der sechziger Jahre: Es gibt eine breite klassische Arbeiterschicht, eine (z.Z. nicht mehr vollentwickelte) Schwerindustrie und eine totalitär beeinflußte Intelligenz. Demgegenüber gibt es bisher keinen liberalen Mittelstand und kaum eine entfaltete demokratische Kultur, mit anderen Worten: keine entwickelte zivile Gesellschaft.

Mit der Ex-DDR ist ein altindustrialisiertes Land durch sozialistische Mißwirtschaft in eine existentielle Krise geraten. Erlebt wird sie weitgehend als Ergebnis einer „Westkolonialisierung“. Insofern ist diese Krise grundsätzlich verschieden und anders zu behandeln als die Wachstums- und Wohlstandskrise im Westen.

3. Die Wendezeit in der Ex-DDR ist vorbei, es setzt „Normalität“ ein. Die Anfänge einer eigenen Demokratisierung sind durch die Entwicklung der letzten fünf Jahre weitgehend zerstört worden. Das politische Klima ist nicht (mehr) von Aufbruchstimmung gekennzeichnet, sondern von der Suche nach vermeintlichen Sicherheiten – entweder den jetzigen westlichen (CDU) oder den früheren östlichen (PDS). Die Mehrheit der ostdeutschen Wählerschaft will soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand. Beides wird mit wirtschaftlichem Wachstum verknüpft – und erst danach mit ökologischer Reform und dem Ausbau demokratischer Kultur, am wenigsten mit dem Einsatz für die Dritte Welt oder für Minderheiten.

4. Der Erfolg der PDS beruht – abgesehen von ihren Plagiaten bündnisgrüner und sozialdemokratischer Programmatik – auf einer Mixtur aus Ostalgie, sozialistischem Populismus und systemoppositionellen Forderungen für die ostdeutschen Vereinigungsverlierer aller Spielarten. Sie ist deshalb aus dem Blickwinkel von Bündnis 90/Die Grünen konservativer als die SPD. Von der CDU unterscheiden sich PDS und Sozialdemokratie dadurch, daß sie sich auf das altlinke Milieu der traditionellen „Arbeiterbewegung“ beziehen und damit den „linken“ Part jener Wachstumsgesellschaft einnehmen, die der Osten Deutschlands war und immer noch ist.

Daß die PDS mit ihrem radikal oppositionellen Auftreten auch viele jüngere Menschen in ihren Bann zieht, ändert noch nichts an ihrer konservativen Qualität. Es muß allerdings von einer bündnisgrünen Partei, die (im Westen) selbst aus einer jugendlich geprägten Protestbewegung hervorging, um so ernster genommen werden.

5. Die PDS profitiert von den Fehlern der westdeutschen Parteien. Sie baut daraus eine Ost-West- Front auf und suggeriert, dies sei linke Politik. Im Vergleich zur SPD ist sie ost-nationalistisch und insofern nicht einmal in ihrem eigenen Selbstverständnis „links“. Nur auf diese Weise kann sie jene Teile ihrer Klientel binden, die sozial auf der „anderen“ Seite stehen – ostdeutsche Unternehmer und Beamte, die der SED-Nomenklatura angehörten oder sich als Ex- DDR-Bürger vom Westen benachteiligt fühlen. Von daher kann die PDS möglicherweise als Regionalpartei auf DDR-Gebiet überleben – vergleichbar am ehesten mit der bayrischen CSU oder dem „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ in den fünfziger Jahren.

6. Die nicht unmittelbar stalinistische Minderheit der PDS kommt einer modifizierten DDR-Ausgabe der klassischen SPD gleich. Letztere tritt (als Westpartei) zu etabliert und zu westlich-arrogant auf, als daß sie (im Osten) die traditionelle gesellschaftliche Rolle der SPD spielen könnte. Hinzu kommt, daß sie im Osten zu neu, daher zu schwach und zu klein ist, um der disziplinierten, wohlhabenden und um ein Vielfaches größeren PDS wirkungsvoll entgegenzutreten.

7. Sowohl SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen sind im Osten zu schwach und (also) zu sehr von ihren potenten Westteilen dominiert, um als Vertreterinnen ostdeutscher Interessen wahrgenommen zu werden. Beide sind neue Parteigründungen ohne entwickelte Organisationen, ohne hinreichende Mitgliederzahlen und ohne ein gewachsenes gesellschaftliches Milieu – verglichen mit der SED und den Blockparteien, die als Teile von Regierungsparteien bzw. als PDS weiterexistieren. Insofern sind vor allem SPD und Bündnis 90/Die Grünen strukturell Opfer der allgemeinen Politikmüdigkeit und des damit verbundenen Mangels an gesellschaftlichem Engagement.

8. Weniger Bündnis 90/Die Grünen als vielmehr die SPD ist auf längere Sicht mit der PDS konfrontiert. Letztere konkurrieren in Ostdeutschland vor allem um den sozial benachteiligten Teil der Wählerschaft in seinem Anspruch auf angemessene Beteiligung an materiellem Wohlstand und dessen politischer Absicherung im vereinigten Deutschland. Jener (kleine) Teil der PDS und jener (große) ihrer Wählerschaft, der nicht der stalinistischen Tradition verhaftet ist, wird in der SPD aufgehen, wenn diese eine solche Entwicklung gezielt betreibt – oder umgekehrt.

9. Nur ein Teil der Wähler der PDS ist für Bündnis 90/Die Grünen von Interesse und erreichbar.

Eine politische Partei, die die Wachstumsgesellschaft reformieren bzw. überwinden will und auf die Emanzipation der Menschen von ideologischen Dogmen und autoritären Strukturen abzielt, darf um ihrer eigenen Identität willen nicht in 68er Sozialismus-Diskussionen zurückfallen. Sollte sich der bei Bündnis 90/Die Grünen verbliebene Rest traditionell linken Politikverständnisses – mit Vorstellungen wie Listenverbindungen oder Koalitionen mit der PDS – durchsetzen, würde der erreichte Grad der Entideologisierung von Parteikonflikten um Jahre zurückgeworfen. Bündnis 90/Die Grünen würde im Osten gespalten, wenn nicht gar von der PDS aufgesogen. Nicht nur der Grundkonsens der Vereinigung von Bündnis 90 und Grünen, sondern sogar das bündnisgrüne Projekt selbst würden zur Disposition gestellt.

10. Eine Bündnispolitik gegenüber der PDS kommt für Bündnis 90/ Die Grünen nur dann in Frage, wenn eine deutlich wahrnehmbare politische und organisatorische Trennung von der stalinistischen Tradition (Stichworte: Kommunistische Plattform, IM-Tätigkeit, Täterschutzorganisationen etc.) erfolgt. Zu den Bedingungen gehört ebenfalls die Aufgabe inhaltlicher Prämissen, die das Programm der PDS nachhaltig prägen: ihre Geringschätzung der Individual- und Menschenrechte; das Verlangen nach der Rückkehr des omnipotenten Fürsorgestaates; das Festhalten an der Wachstumsideologie; das Verharren in systemoppositionellen Forderungen ohne Rücksicht auf ihre Realisierbarkeit.

11. Auf absehbare Zeit werden bündnisgrüne Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen in Ostdeutschland niedriger bleiben als im Westen. Eine Klientel, die den ökologischen und demokratischen Zielen von Bündnis 90/Die Grünen zuzuordnen ist, wird sich in der Ex- DDR nur in dem Maße entwickeln, wie die soziale Struktur und politische Sozialisation der westdeutschen ähnlich und die alltägliche Erfahrung der in Westdeutschland vergleichbar wird. (Für den Fall, daß dies nicht passiert, haben Bündnis 90/Die Grünen bisher kaum eine Antwort entwickelt.)

12. Gleichzeitig muß – ohne Opportunismus gegenüber der PDS – auf die im Osten anders akzentuierte Problemlage stärker als bisher eingegangen werden: Wirtschaftliche Umstrukturierung kann im Osten nicht einfach wie der Rückbau der überentwickelten Infrastruktur im Westen angegangen werden. Wir brauchen „Aufbau Ost“ statt „Nachbau West“. Die Entwicklung eines Mittelstandes einschließlich einer mittelständischen Wirtschaft und des Dienstleistungssektors muß gefördert und politisch positiv begleitet werden. Erst auf dieser Grundlage kann sinnvoll Einfluß darauf genommen werden, möglichst viele Fehler der westdeutschen Entwicklung der letzten vierzig Jahre zu mindern oder zu vermeiden.

13. Bündnisgrüne Politik muß die Menschen im Osten da abholen, wo sie sind. Das Gefühl des Benachteiligtseins im deutschen Vereinigungsprozeß hat einen realen Kern, dessen Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit unübersehbar sind. Ein entscheidendes Bedürfnis der „Angeschlossenen“ ist das Selbstwertgefühl.

Darauf wurde in der an Westdeutschland orientierten bündnisgrünen Wahlkampfstrategie nicht mit der entsprechenden Sensibilität eingegangen. Auch für das politische Handeln von Bündnis 90/ Die Grünen gilt: Nicht der Westen muß nachgebaut, sondern der Osten aufgebaut werden.

14. Der notwendigen Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung steht die ebenso unbestreitbare Einsicht gegenüber, daß die neue „zivile Gesellschaft“ im Osten – wie bei jedem anderen gesellschaftlichen Umbruchprozeß – nur im Einvernehmen mit der Mehrheit der Bevölkerung entwickelt werden kann.

Die im Herbst 1989 formulierte „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ ist auch eine Herausforderung an die aktuelle bündnisgrüne Politik.

15. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Desillusionierung über den Kapitalismus wissen viele Menschen nicht mehr, an was sie sich „festhalten“ – geschweige denn, worauf sie ihre Hoffnungen richten sollen. Nur wenn Bündnis 90/Die Grünen eine sinngebende, hoffnungstiftende Vision vermitteln können, werden sie die Menschen auch mitreißen können für das notwendige und zugleich schöne Vorhaben „Ein Land reformieren“.

Diese Herausforderung erfordert das Schöpfen aus dem gesamten Vorrat an emanzipatorischen und liberalen, humanistischen und „linken“ Ansätzen. Dem würde eine selbstauferlegte und letztlich konservative Beschränkung auf ein Parteiprofil „links von der SPD“ entgegenstehen.

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