Zwei Wähler, eine Stimme

■ betr.: „Die Re-Infantilisierung der Bürger“ von Stefanie Christman, taz vom 17.10.94

Ihrer Analyse des derzeitigen Zustandes unserer politischen Kultur möchte ich vorbehaltlos zustimmen. Die Frage bleibt jedoch unbeantwortet, was dagegen getan werden kann, um die drei Aspekte zum Erhalt der Demokratie lebendig zu halten, als da wären:

– Inhalte in den Wahlkampf zu bringen.

– Als Wähler ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln.

– Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation herbeizuführen.

[...] Erreicht werden könnte dies, indem zwei zufällig ausgewählte Wähler gemeinsam eine Stimme bekommen, auf die sie sich dann einigen müssen.

Dies klingt ziemlich ungewöhnlich, und ich hoffe, Sie werden den Brief noch nicht zerknüllt in den Papierkorb geschmissen haben, steht die Idee doch in völligem Gegensatz zur verbreiteten Auffassung, daß eine Wahl geheim und frei sein soll. Trotzdem ist es sehr interessant, sich auf dieses Gedankenspiel einzulassen, denn es eröffnet, zumindestens theoretisch, unglaubliche Perspektiven, denn nun muß sich auf einmal jeder Wähler vergegenwärtigen, warum er eine Partei/eine Person wählen möchte, muß dies artikulieren und danach auch noch dem anderen zuhören, was er vorzubringen hat. Das bedeutet aber doch, daß plötzlich alles auf dem Prüfstein der Sprache fragwürdig werden kann. Die Wähler werden sich so „fortlaufend gegenseitig weiterbilden“. In dem Moment, in dem das passiert, ist aber auch alles, was Sie in Ihrem Artikel angesprochen haben, nicht mehr möglich. Parteien müßten argumentieren, Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, und die Wähler würden diese Dinge begierlich aufnehmen, vielleicht sogar in reflektierter Form in ihre Lebenssituation einbringen und umsetzen, sei es, indem sie ihr alltägliches Verhalten ändern oder plötzlich das Gespräch mit ihrem Abgeordneten suchen. [...] Henrik Sander, Berlin