Anmaßender Eurozentrismus

■ betr.: „Konservativ und manipu liert“, taz vom 15.10.94

Nun haben wir wieder schwarz auf weiß gemalt das Bild vom „furchtbaren Türck“ und wissen alle ganz genau, warum wir unseren türkischen Mitbürgern keine doppelte Staatsbürgerschaft geben dürfen: Weil dann die türkische Regierung zu großen Einfluß auf die BRD bekäme.

Vom Einfluß, den unsere Regierung bereits jetzt auf die türkische Regierung per Zuarbeit durch Waffenlieferungen und Nato-Bruderschaft und milde Peitschenhiebe als kaltherzige Proteste gegen die Menschenrechtsverletzungen ausübt, wird in diesem Artikel nichts gesagt.

Dafür aber wird verallgemeinert und mit anmaßendem Eurozentrismus über Türken und Kurden geurteilt, und Türken stehen Deutschen „vielfach voll Verachtung“ gegenüber. Türken? Nicht auch Kurden? Nicht etwa alle Ausländer, die hier den deutschen Rassismus erfahren haben? Vielfach, das heißt fast alle Türken? Kemalismus und Islamismus gleichzeitig als prügelnde Faktoren für die Sozialisation der Türken? Also bitte, der Kemalismus ist laizistisch und steht konträr zum Islam – wir wollen doch die deutschen Leser nicht belügen, Frau Wießner!

Und was zum Teufel geht es einen türkischen Nachbarn an, wenn die Tochter seines deutschen Nachbarn auszieht? Und es gefällt mir auch nicht besonders, wenn faschistisch und radikal-islamisch gleichgesetzt werden, wie in diesem Artikel geschieht – den Nationalismus will ich mal lieber außen vor lassen, denn es ist immer so peinlich, wenn ein/e Deutsche/r über den türkischen Nationalismus geifert und den kurdischen Nationalismus bejubelt.

Dafür wird aber kein Wort darüber verloren, wie der neue Islamismus entstand und daß er Ausdruck des Protestes gegenüber der Europäisierung ist, denn Protest ist als solcher nur links und nicht – religiös erwünscht, nicht wahr?

Wie schön gemalt ist hier das neue Bild vom „furchtbaren Türck“, der, fanatisch-islamisch – und faschistisch – manipuliert, nicht mordend und brandschatzend wie vor Wien, sondern bewaffnet mit der doppelten Staatsbürgerschaft und dem Wahlrecht vor den Toren Berlins auftaucht. Der böse Türke, der selbst schuld ist an seinem Elend – was will er auch uns Deutsche nicht verstehen? Er verachtet uns, und dagegen wehrt sich Frau Wießner in perfidester Weise, weil sie nämlich für ihren rassistischen Artikel eine Unmenge linker Schlagworte und Argumente benutzt.

Denn der Türke ist dumm und manipulierbar – der Deutsche anscheinend nicht –, und es macht ja auch wirklich einen verdammt großen Unterschied, ob Türken gegen Deutsche oder Deutsche gegen Türken aufgehetzt werden. [...]

Tatsache ist doch, daß die meisten Türken hierzulande von uns Deutschen ausgegrenzt werden und sich deshalb so sehr an ihre heimatliche Kultur klammern, daß unsere Verachtung und auch unser ach so freundlich-missionarisches Helfersyndrom natürlich die Verachtung der Türken erst provozieren. Und es ist auch eine Tatsache, daß die ach so dummen türkischen Arbeitnehmer wesentlich besser als ihre deutschen Kollegen über Arbeitsrecht und Gesetze überhaupt Bescheid wissen und prozentual in den Gewerkschaften stärker vertreten sind.

Sind es diese, denen die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt werden soll, weil sie im Sinne der Autorin wählen würden? Warum ist eine doppelte Staatsbürgerschaft Unentschlossenheit? Ist es nicht im Gegenteil die beste Möglichkeit, in zwei Staaten politisch etwas zu bewirken? Sind Wähler mit doppelter Staatsbürgerschaft weniger „neutral“ als Deutsche, die schon vor dem Wahlkampf mit all seinen Plakaten auf eine Partei fixiert sind? Mir mißfällt, wie hier der vielfach gerade in Deutschland mißbrauchte Heimatbegriff verwendet wird. Ja, auch einem Muslim mit deutscher und türkischer Staatsbürgerschaft liegt das Wohl seiner neuen deutschen Heimat am Herzen, wenn er versucht, hierzulande islamische Politik zu machen, er will seine Ziele und Ideale vertreten und sie im Rahmen unserer Religions- und Meinungsfreiheit in die öffentliche Diskussion einbringen. Soll er das in einer Demokratie nicht tun dürfen? [...]

Frau Wießner weiß auch, daß sich türkische Wähler allesamt massiv durch die türkische Presse beeinflussen lassen. Wir Deutschen lassen uns bekanntlich nie beeinflussen, wir lieben unsere türkischen Mitbürger, solange sie sich anpassen und das Maul halten, und wir schmeißen sehr gerne die offizielle türkische Presse, die „Grauen Wölfe“ und ähnliche Banden und Islamisten in einen Topf, denn es geht hier nicht um sachliche Berichterstattung, sondern um die Erstellung eines Feindbildes.

Ganz besonders gemein im Eintopf dieser Argumente sind der von Frau Wießner mißbrauchte Aufstand der Kurden und der PKK, die somit hier passiv zu Unruhestiftern gemacht werden. [...] Da die Kurden seit Jahrtausenden schon der Spielball fremder Mächte waren, wird es ihnen nichts ausmachen, auch von Frau Wießner als Schlagball gebraucht zu werden. Aber mir macht so ein Freund-Feind-Bild was aus, der gute, tapfere Kurde umzingelt von Feinden und unterdrückt – damit hat Frau Wießner recht – und der böse Türke, der den Kurden unterdrückt und uns bei den Wahlen auch noch unterdrücken will, sofern wir ihm dummerweise die doppelte Staatsbürgerschaft zukommen lassen. Aber kein Wort über türkische politische Gefangene, nein, nur ein altes Feindbild neu aufgemotzt. [...]

[...] Man/frau bedenke das Argument von dem fanatisch islamisierten Türken, der die CDU wählen soll, eine christliche Partei. Ich bin ja gerne bereit, mich überzeugen zu lassen, und diese beiden Argumente haben mich überzeugt – vollends überzeugt, daß dieser Artikel Schwachsinn ist. [...] Kerstin Witt, Berlin