Mythen statt Analyse

■ betr.: Niederlage B 90/Grüne in den neuen Ländern, diverse Arti kel, Kommentare, taz vom 17./18.10.94

Ohne das Wirken und den Mut der BürgerrechtlerInnen im geringsten niedermachen zu wollen:

Aber waren wirklich sie es, die die Implosion der DDR einleiteten? War es nicht vielleicht doch der – durch externe Bedingungen ermöglichte – Massenexodus, gerade auch junger, im Arbeitsleben stehender Familien? Waren es nicht die, die ihre Babies über Botschaftsmauern hievten, die, die sich in endlosen Trabi-Karawanen über die ungarische Grenze „machten“, die, die im Sonderzug durch die DDR fuhren, die die Krise des Systems bis zur Spitze hochtrieben. Begann die Implosion nicht dadurch, daß die Leute Staat und System einfach davonliefen (-fuhren)? Die ersten Parolen auf den Straßen von Leipzig, Dresden pp. waren doch nicht „Wir sind das Volk“, sondern „Wir bleiben hier“!

Es bleibt zu überlegen, ob die Bedeutungslosigkeit der BürgerrechtlerInnen seit 1990 nicht auch ganz wesentlich in der Form der „Revolution“ bereits angelegt war, einer Revolution, in der die Massen nicht für Freiheit... das Regierungsgebäude stürmten, sondern für VW, Aldi und Sony einfach davonliefen – weil sie die Schnauze voll hatten und es plötzlich möglich wurde?

Ich bewundere den aufrechten Gang der meisten BürgerrechtlerInnen – aber es bringt nichts ein, statt einer genaueren Analyse der Vorgänge 89/90 irgendwelche Mythen aufzubauen. An einem solchen Mythos wird zur Zeit meines Erachtens gebastelt. Das ist schädlich! Günter Burkart, Offenbach