Überwachung von unten

„Manöver Schneeflocke – Brigadetagebücher 1960 bis 1990“ im Museum Berliner Arbeiterleben  ■ Von Andrea Kern

Winter 90/91. Die deutsche Einheit ist gerade unter Dach und Fach, und in Ostdeutschland feiert man zum zweiten Mal die Stunde Null. Über Nacht verloren 45 Jahre Leben in der DDR ihren Sinn. Tabula rasa bei den Ostdeutschen: Das Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat schien den meisten der Erinnerung nicht wert, die Geschichte wurde zum Abfall erklärt und kurzerhand entsorgt. Auf den Müllkippen türmte sich damals die Alltagsgeschichte der DDR.

Buchstäblich verrottet wäre sie dort auch, hätte nicht das kleine Museum Berliner Arbeiterleben den Entsorgungsdrang der Ostdeutschen geahnt. Wochenlang haben die Historiker Müllcontainer durchwühlt und tonnenweise dokumentarisches Material sichergestellt. Neben Plakaten, Photos und alten Zeitungen haben sie Tagebücher herausgefischt, deren Existenz allein schon die alles umfassende Ideologie der DDR bezeugt: Brigadetagebücher. Über tausend solcher in rotes, blaues oder braunes Kunstleder gebundener Bände hat das Museum bisher ausgewertet, ein Bruchteil davon ist nun in der Ausstellung „Manöver Schneeflocke – Brigadetagebücher 1960 bis 1990“ zu sehen.

Indes, die Ausstellung ist mehr als bloße Spurensicherung, und die Brigadetagebücher sind mehr als bloß der Abdruck einer Ideologie. „Nicht die SED und nicht die Stasi“, so der Kulturhistoriker und Leiter der Ausstellung Tobias Böhm, „haben die Leute hier zusammengehalten. Die Brigaden waren das Herz der DDR.“ Zwar war, wer in der DDR arbeiten ging, nicht automatisch in einer Brigade, doch am Ende gab's kaum einen mehr, der nicht ein Brigademitglied war. Ungefähr 15 Arbeiter waren in einer Brigade zusammengefaßt, und in dieser willkürlich aus dem Boden gestampften Betriebsgruppe verbrachte man mehr oder weniger seine gesamte Zeit. Die Brigade sorgte dafür, daß ein sozialistischer Großbetrieb mehr war als bloß ein Ort der Plackerei. „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“ hieß die Devise, die Fabrik sollte auch ein Ort der Bildung und des Amüsements sein.

Ob Kegel-, Sport oder Gesangsverein, die Brigade war alles in einem und noch mehr: Auf die Brigade war man stolz, mit ihr ging man geschlossen zu Demonstrationen, unterhielt Beziehungen zu anderen Brigaden, betreute eine Patenklasse und kämpfte jedes Jahr erneut um den Ehrentitel „Brigade der sozialistischen Arbeit“. Als eine Art zweite Familie waren die Brigaden die grundlegende soziale Einheit, durch die sich die DDR als sozialistisches Gemeinwesen formierte. Vom Theaterbesuch bis zur Blutspendeaktion, alles wurde gemeinsam gemacht, und seit der 1. Bitterfelder Konferenz von 1959 hat man das Ganze auch gemeinsam zu Papier gebracht. Unter dem Motto „Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ wurde damals nicht nur der sozialistische Realismus als alleinseligmachendes Literaturprogramm staatlich verordnet. Das Führen eines Brigadetagebuchs, ob in der Kinderkrippe oder in der Werkzeugmaschinenfabrik, gehörte von nun an zum täglichen Brot eines jeden Brigadiers. Von der Schilderung gemeinsamer Ausflüge über selbstgemalte Glückwunschkarten zum 20. Jubiläum der DDR bis hin zu Rechenschaftsberichten, Versammlungsprotokollen und Statistiken darüber, wer wann mit welcher Entschuldigung um wie viele Minuten zu spät zur Arbeit kam: alles wurde in den Tagebüchern fein säuberlich archiviert.

Weit davon entfernt, nur kuriose Überbleibsel eines untergegangenen Staates zu sein, sind die Tagebücher, die bis zum letzten Tag gewissenhaft geführt wurden, auf zweierlei Weise lesbar: Nicht zu überschätzende historische Dokumente sind sie, weil in ihnen ein entscheidendes Kapitel der DDR- Alltagsgeschichte festgehalten ist. Zugleich jedoch offenbaren sie sich als Instrumente einer Form von Überwachung, die möglicherweise wirkungsvoller war als die durch die Stasi: Überwachung von unten.

Das Material, das hier unkommentiert in Glaskästen ausgestellt wird, schreit nach Interpretationen, doch dafür, so die Historiker des Museums, sei es noch zu früh. Die Tagebücher dokumentieren ein Leben, das kaum erst vergangen ist. Sie mit der Distanz und der Übersicht eines Geschichtsforschers einordnen und bewerten zu wollen wäre entweder anmaßend oder heuchlerisch. Wer aus dem Osten in die Ausstellung kommt, braucht wohl auch keinen Kommentar. Kennt man doch die Zeilen, die man einst verfaßt hat. Etwa den Kultur- und Bildungsplan einer Berliner Kinderkrippe von 1979: Vom Vortrag über Kunst in der Sowjetunion im Januar über den Besuch einer Eisdiele im Juli bis zur Feierstunde der Oktoberrevolution ist alles ordnungsgemäß verzeichnet. Oder den Eintrag der Brigade „Wilhelm Pieck“ am 13. August 1971 über ihre Festlichkeiten zum zehnjährigen Jubiläum der Mauer: „Allen Spekulanten, die aus dem geteilten Deutschland seit Jahren schmutzige Geschäfte machten“, so hielt die Brigade den Sinn ihrer lustigen Feier fest, „wurde an diesem Tag ein für allemal das Handwerk gelegt.“ Schon ein Anlaß, wie ebenso vermerkt wird, „viel Sekt zu leeren“.

Natürlich gehörte die Liturgie des Staates und der Partei zum festen Bestandteil des Brigadetagebuchs, winkten doch ab und an eine Prämie oder ein paar Tage Sonderurlaub. Weit mehr jedoch offenbart sich das Funktionieren der Staatsideologie an Beispielen ihrer Verinnerlichung: Irritiert liest man die Verpflichtungserklärung zur Planübererfüllung oder jene vom 25.5.81, in der sich eine Arbeiterin nicht nur dazu verpflichtet, „fehlerfrei“ und „papiersparend“ zu arbeiten, sondern überdies ihre Einarbeitungszeit „drei Monate vor dem geplanten Termin“ zu beenden. Ebenfalls irritierend die Protokolle der Selbstbezichtigung: In ihrem Rechenschaftsbericht vom 12.6.81 etwa klagt sich die Brigade „Luna16“ an, daß ihre Beteiligung am Rosa- Luxemburg-Gedenkmarsch doch sehr zu wünschen übrigließ, und gelobt Besserung für die Zukunft.

Stil und Aufmachung der Brigadetagebücher erwecken oftmals den Eindruck, als sei eine Schulklasse dazu verdonnert worden, ihrem Lehrer ihre schönsten Ferienerlebnisse zu schildern. Der Stil wirkt unbeholfen, die Sprache ist weder persönlich noch irgendwie privat, man bewegt sich in Sprachschablonen, doch die werden kaum beherrscht. So notierte eine Brigade, daß es großen Spaß gemacht habe, „sich im nassen Element zu bewegen“, und wollte doch mehr nicht sagen, als daß sie schwimmen war.

Man lobt sich, man klagt sich an, man demonstriert Fröhlichkeit – zu Fasching malt man mit Filzstiften einen Clown ins Tagebuch, am Frauentag werden die Zeilen zur Feier des Tages mit Blumenschlangen umkringelt. „Im Grunde“, so der Ausstellungsmacher, „haben sich die Arbeiter in der DDR niemals aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis befreit. Die Leute schreiben, was von ihnen erwartet wird. Kinderhandschriften sind das zum Teil.“

Darum kann man auch nicht sagen, die Brigadetagebücher spiegelten das Leben der Arbeiter in der DDR getreu wider. Alltagsgeschichte schreiben sie nur mit Vorbehalt. Was sie dokumentieren, ist weniger das Leben im Alltag als die Omnipräsenz der sozialistischen Ideologie in ihm. In diese, so jedenfalls lassen sich die Tagebücher verstehen, hat man sich eingeklinkt, man hat sozialistisch gelacht, sozialistisch gesoffen, und schließlich hat man das Ganze auch noch sozialistisch protokolliert.

Die Brigadetagebücher dokumentieren so eine wesentliche Seite totalitärer Regime: ihr Vermögen, die Herrschaft ihrer Imperative und Begriffe so tief im je eigenen Denken, Wollen und Empfinden zu verwurzeln, daß die Fähigkeit, zwischen dem zu unterscheiden, was man selbst sein will, und dem, was die ideologische Norm verlangt, prekär wird. Die Macht der SED beruhte nicht auf der moralischen Schwäche von Spitzeln und Denunzianten, und deshalb ist das Durchforsten der Stasiakten nur ein Anfang der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Was es hieß, in der DDR zu leben, wird man erst wissen, wenn man gelernt hat, die Spuren der Parteimacht noch in Reaktionen zu entdecken, die man für die spontansten und unverdächtigsten hielt. Die Ausstellung der Brigadetagebücher ist für die Verständigung zwischen Ost und West bedeutsam, weil sie klarmacht, daß zur Verarbeitung dieser Differenz mehr nötig ist als der gute Wille, offen füreinander zu sein.

Bis zum 15. Oktober 1995 im Museum Berliner Arbeiterleben, Dienstag–Sonntag 10–18.00 Uhr