Die empfindliche Pumpe der Pole

Polares Kaltwasser speist die Meeresströmungen und bestimmt das Klima  ■ Von Andreas Weber

Der Motor läuft durch Energieentzug. Wenn im arktischen Winter die Grönlandsee unter drei Meter dicken Eisschuppen erstarrt, kommt neuer Antrieb in das erdumspannende System der Meeresströmungen. Die eisige Salzlake, die aus der kristallisierenden See herausgepreßt wird, sinkt in die Tiefe und drängt das dortige Wasser in den Nordatlantik hinaus. Sechzig Millionen Kubikmeter pro Sekunde machen sich auf ihre tausendjährige Reise um die Welt.

Das sehr salzige und weit unter null Grad kalte Wasser, das an den Polen absinkt, liefert den Nachschub für ein kompliziertes System von Meeresströmungen, das die Ozeane der Erde in Bewegung hält. Der warme Golfstrom, der das europäische Klima mildert, der kalte El Niño, der die Fischgründe vor der pazifischen Küste Südamerikas mit Nahrung aus der Tiefe versorgt, der eisige Labradorstrom – sie alle sind Teil eines verästelten Stromnetzes, das die Weltmeere durchzieht und entscheidende Bedeutung für die Temperaturen auf den Kontinenten hat. Die in der vergangenen Woche aus dem nördlichen Eismeer zurückgekehrte deutsch-russische Schiffsexpedition „Transdrift 2“ hat neue Belege für die weltweiten Zusammenhänge zwischen Meeresströmungen und Klimaerscheinungen mitgebracht.

Das Herz des Meeresorganismus schlägt an den Polen. Dort wird mit einer gigantischen Umwälzpumpe ein Strom angetrieben, der sich in 1.000 bis 7.000 Meter Tiefe durch die Weltmeere wälzt, bis er endlich in den Tropen wieder zutage quillt. Denn Seewasser hat eine charakteristische Eigenschaft: Seine Dichte hängt nicht nur von der Temperatur, sondern vor allem vom Salzgehalt ab. Je mehr Salz im Wasser konzentriert ist, desto schwerer wird es. So trennen die Minusgrade des polaren Winters das Seewasser in seine Bestandteile: Nur fast reines Süßwasser erstarrt an der Oberfläche zu Eis, das Salz hingegen wird mit wenig Flüssigkeit als konzentrierte Lake nach unten ausgepreßt. Dieser Prozeß setzt ein, wenn das Oberflächenwasser zu Beginn des Winters stark unterkühlt wird und sich zunächst feine Eiskristalle bilden. Weil diese leichter als das Meerwasser sind, steigen sie an die Oberfläche. Darunter zurück bleibt eine konzentrierte und weit unter null Grad kalte Sole. Durch zunehmendes Ausfrieren nach unten wird diese immer salziger. Irgendwann ist der Wasserkörper mit dem hohen Salzanteil so schwer geworden, daß er durch die unter ihm liegende Schicht aus wärmerem, aber weniger salzigem Seewasser hindurchbricht und als kompaktes Wasserpaket in die ozeanische Tiefe sackt.

Auf diese Weise suchen während der polaren Winter gewaltige Wassermassen ihren Weg hinab. Doch nur an wenigen Gebieten der Erde kann die Tiefenkonvektion stattfinden. Die Pumpen sind punktförmig in der Nähe der Pole konzentriert: am Südpol im zwischen Feuerland und dem antarktischen Kontinent gelegenen Weddellmeer, auf der nördlichen Halbkugel im Nordpolarmeer und in der Grönlandsee, wo das abgesunkene Wasser sogar noch eine kilometerhoch in der Tiefsee aufragende Schwelle überwinden muß, bevor es sich in den Atlantischen Ozean ergießt.

An nur zwei Punkten auf diesem Globus wird also Nachschub in den ozeanischen Kreislauf eingespeist. Und nur durch das Absinken der kalten Wassermassen im hohen Norden entsteht Platz für den warmen Wellenberg des Golfstroms, der sich von Südwesten beständig in den nördlichen Atlantik schiebt.

Die Umwälzpumpe des Weltmeeres wird mit Kälte betrieben. Dieser Punkt macht sie gegenüber einer globalen Temperaturerhöhung äußerst empfindlich. Der Nachschub an Tiefenwasser hängt entscheidend davon ab, daß die Oberfläche des Meeres im Winter vereist. Andernfalls bleibt der Zustrom aus. Der Kreislauf wäre erschüttert wie der Körper eines Patienten mit Herzrhythmusstörungen. „Der Golfstrom würde nach Süden abdrehen“, ist die Vermutung von Christian Wamser, Klimaforscher am Alfred-Wegener- Institut in Bremerhaven. Das hätte groteske Folgen für die Temperaturen auf unserem Kontinent: „Trotz gleicher Sonneneinstrahlung“, konstatiert der Wissenschaftler, „sind die mittleren Temperaturen an Orten vergleichbarer Breite, aber ohne den milden Einfluß des Golfstroms, um bis zu zehn Grad niedriger als in Europa.“ Frankfurt/ Main liegt auf demselben Breitengrad wie die Nordspitze des kalten Neufundland.

Sobald die Eisbedeckung abnimmt, tritt eine Rückkopplung ein, die weitere Eisbildung noch unwahrscheinlicher macht: Die dunkle Wasseroberfläche erwärmt sich wesentlich leichter als das helle Eis. Solche Selbstverstärkung könnte dazu führen, daß der Wasserzustrom von einem Jahr zum anderen plötzlich versiegt. Einschlüsse in grönländischen Gletschern geben Hinweise darauf, daß die polare Wasserpumpe in der letzten Zwischeneiszeit bereits mehrmals zum Stillstand gekommen ist. Temperaturschwankungen bis zu zehn Grad waren die Folge. „Es ist nicht auszuschließen“, so die Forscher, „daß solche Kapriolen ganz plötzlich auftreten.“ Messungen der Eisdicke am Pol von einem Forschungs-U-Boot ergaben während der siebziger und achtziger Jahre bereits eine Abnahme von dreißig Prozent. Doch um auszuschließen, daß es sich um natürliche Schwankungen handelt, müßten die Messungen dringend wiederholt werden.

Erich Röckner vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie vermutet, das ozeanische Strömungsgefüge bilde „zwei stabile Zustände in einem chaotischen System“, die kurzfristig ineinander übergehen könnten. Was unser Klima betrifft, rechnet Röckner dennoch „eher mit einem Gleiten, nicht mit einem Umkippen“. „Beim Business-as-usual- Szenario“, so seine Meinung, „wenn wir also weiter so viel CO2 in der Atmosphäre verteilen wie bisher, wird die ozeanische Zirkulation in den nächsten hundert Jahren nur um zehn Prozent abgeschwächt.“ In diesem Fall wäre Europa wieder einmal fein raus: Der abgeschwächte Golfstrom würde das wärmere Klima in etwa ausgleichen.