Wege aus der Unübersichtlichkeit

■ Nach dem Fiasko von Bad Kleinen könnte Möllers Entlassung ein Signal setzen

„Keine Gefangenen – keine RAF mehr.“ Es dauerte, bis die Überzeugung des 1991 verstorbenen Hamburger Verfassungsschutzchefs Christian Lochte ihre Adressaten in der Politik gefunden hatte. Der Behördenchef stand mit seiner Auffassung keineswegs alleine da – auch die Kölner Verfassungsschützer trugen sie mit. Wie Lochte meinte deren früherer Präsident Boeden, daß das intellektuelle Potential der RAF längst verfallen sei, ihre Existenz lasse sich fast nur noch aus der Situation ihrer Gefangenen ableiten. Personell klein und politisch isoliert sei sie zwar in der Lage, perfekte Attentate gegen führende Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft durchzuführen, politisch bewegen könne sie aber schon lange nichts mehr. Konsequenz: Wenn es gelänge, der RAF das Thema Gefangene und „Isolationsfolter“ zu nehmen – die Guerilla müßte kapitulieren und früher oder später aufhören zu existieren.

Unerwartete Schützenhilfe erhielten die Vertreter der Lochte- These, als sich nach der Ermordung des Treuhandchefs Rohwedder im April 1991 die Spitzen der Wirtschaftsverbände an Kohl wandten und alternative Konzepte zur Terrorismusbekämpfung einforderten. Kohls Plazet dafür war Ausgangspunkt der „Kinkel-Initiative“.

Als ein Alternativkonzept diskutierte die nach dem Rohwedder- Attentat gegründete „Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung“ (KGT) die vorzeitige Haftentlassung einzelner Gefangener. Die in der Gruppe vertretenen Mitglieder aus Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und den Bonner Innen- und Justizministerien unterstützten dieses Konzept. Offiziell wurde die neue Initiative verkündet, als der damalige Justizminister Klaus Kinkel im Januar 1992 erklärte, auch der Staat müsse bereit sein, eine Aussöhnung mit der RAF zu suchen.

Die Hoffnung auf ein politisches Ende des Terrorismus wurde untermauert, als die Illegalen der RAF am 10. April 1992 in einem Schreiben erklärten, zukünftig auf Attentate verzichten zu wollen. Die RAF konstatierte, mit ihrem bewaffneten Kampf gescheitert zu sein. Sie kündigte an, sich dem „Aufbau einer sozialen Gegenmacht von unten“ widmen zu wollen. Wenige Tage später gab auch Irmgard Möller im Namen der RAF-Gefangenen eine inhaltlich zustimmende Erklärung ab.

Das Tor zu einer politischen Lösung stand im Frühjahr 1992 sperrangelweit offen – doch die Bemühungen der KGT wurden vor allem durch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe konterkariert. Auf Grund der Aussagen der nach der Wende in der DDR festgenommenen RAF-Aussteiger wurden neue Prozesse gegen ohnehin schon zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene eingeleitet – mit der Folge, daß bei ihnen die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung nicht mehr in Frage kam. Von den Gefangenen, für die eine vorzeitige Entlassung in Frage kam, forderte die Bundesanwaltschaft ein rituelles Abschwören von Gewalt – mit der Folge, daß die zuständigen Gerichte die Anträge auf Haftentlassung geradezu verwerfen mußten, denn die Gefangenen verweigerten das Ritual. Parallel nahm auch der politische Wille für unkonventionelle Lösungen drastisch ab.

Die mangelnde Entschiedenheit der Politiker gegenüber der Bundesanwaltschaft läßt sich rückblickend nur mit der Existenz des rheinland-pfälzischen V-Mannes Klaus Steinmetz erklären. Mit Steinmetz war es den Verfassungsschützern zum ersten Mal gelungen, einen Informanten an die Kommandoebene der RAF heranzuspielen. Nun sahen die Verantwortlichen im Innenministerium offenbar keine Notwendigkeit mehr, die Alternativen zu fahndungstechnischen Strategien wenigstens parallel weiterzuverfolgen.

Folgerichtig setzten Bundesanwaltschaft und BKA alles daran, über den V-Mann einen vorzeigbaren Fahndungserfolg präsentieren zu können. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl zog die Aktion an sich – die geplanten Festnahmen auf dem Umsteigebahnhof in Bad Kleinen mündeten im Juni letzten Jahres in das bekannte tödliche Fiasko: Der 25jährige GSG-9-Beamte Newrzella vom RAF-Mitglied Wolfgang Grams erschossen, der V-Mann enttarnt, darüber hinaus steht der böse Verdacht im Raum, daß Mitglieder der Eliteeinheit des Bundesgrenzschutzes den bereits überwältigten Wolfgang Grams noch auf den Bahngleisen vorsätzlich töteten. Mit Bad Kleinen scheiterte die Kinkel-Initiative endgültig. Aus Sicht der RAF, ihrer Gefangenen und UnterstützerInnen mußte sie im Rückblick geradezu als Versuch interpretiert werden, hinhaltend auf Zeit zu spielen.

Der RAF-Gefangene Helmut Pohl konstatierte am 27. August 1993 im Namen der am längsten in Haft befindlichen Gefangenen, daß es mit ihnen keine Neuauflage solcher Bemühungen geben werde.

Die Kinkel-Initiative, urteilt ein Fachmann, wurde in den Sand gesetzt, weil sich die Bundesanwaltschaft „konzeptionell der Sache nicht angenommen hat“. Eine Folge sei, daß nun alle Seiten „mit der neuen Situation der Unübersichtlichkeit fertig werden müssen“. Irmgard Möllers Entlassung könnte nun ein Signal setzen. Wolfgang Gast