Neue Schuld

Frankreichs Einmischung in Algerien verlängert die Agonie  ■ Von Hugh Roberts

„Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“, sagt der sympathische Franzose und zynische Polizeichef am Schluß von „Casablanca“. Der rüde Charme des französischen Innenministers Charles Pasqua mag von der Subtilität eines Claude Rains weit entfernt sein, aber im wesentlichen stimmen ihre Manöver überein. „Die üblichen Verdächtigen“ werden von der Polizei natürlich nicht wirklich verdächtigt, sondern nur eingesammelt, um den wirklich Verdächtigen – aus welchem Grunde auch immer – die Chance zur Flucht zu geben. Seitdem am 3. August drei französische paramilitärisch ausgerüstete Polizisten und zwei Beamte des französischen Konsulats in Algier umgebracht wurden, mußten über 25.000 Nordafrikaner, die in Frankreich leben – und nicht wenige von ihnen sind, zumindest theoretisch, französische Bürger – demütigende Personenkontrollen und Schlimmeres von Pasquas Männern über sich ergehen lassen; 26 werden auf höchst zweifelhafter gesetzlicher Grundlage im Haftzentrum Folembray gefangengehalten. Keiner von ihnen steht nachweisbar in Verbindung zu denen, die am 3. August in Algier Franzosen umgebracht haben, und keiner von ihnen ist einer solchen Verbindung angeklagt. Die Morde wurden von der „Groupe Islamique Armée“ (GIA) verübt, die sich öffentlich dazu bekannte. Die in Folembray einsitzenden Männer wurden verhaftet, weil sie Beziehungen zur „Front Islamique du Salut“ (FIS) haben, die mit der Ermordung von Franzosen in Algerien nichts zu tun hat und bekanntermaßen in heftiger Fehde mit der GIA lebt. Es ist nicht das erste Mal, daß so etwas passiert. Im vergangenen Oktober wurden in Algier drei Beamte des französischen Konsulats entführt und eine Woche lang von der GIA festgehalten, bevor sie unverletzt freigelassen wurden. Anschließend organisierte Pasqua eine landesweite Razzia gegen Islamisten in Frankreich, bei der 85 Menschen verhaftet wurden.

Hier zeichnet sich ein Muster ab, das folgendermaßen funktioniert: Die GIA verbricht etwas in Algerien, die französische Regierung reagiert mit extremer Rücksichtslosigkeit und völlig ungerechtfertigten polizeilichen Maßnahmen gegen „die üblichen Verdächtigen“ in Frankreich; diese „üblichen Verdächtigen“ stellen sich als FIS-Mitglieder oder -Sympathisanten heraus, woraufhin die FIS in der öffentlichen Meinung Algeriens zum Sündenbock wird; denn natürlich wird alles in großen Schlagzeilen der französischsprachigen algerischen Presse gemeldet, woraufhin diejenigen Politiker und Parteien in Algerien, die für eine Zulassung der verbotenen FIS und einen „Prozeß des Dialogs“ sind, damit die Gewalt im Lande ein Ende findet, wieder mit dem Rücken zur Wand stehen und wieder für „zu weich mit den Terroristen“ hingestellt werden. [Inzwischen sind am 13. September die FIS-Führer Madani und Belhadsch nach Geheimverhandlungen zwischen Regime und FIS freigelassen worden und ein Dialog hat begonnen (taz vom 15.9.). Da Roberts sich jedoch insbesondere mit der grundsätzlichen Frage französischer Politik gegenüber Algerien beschäftigt, schien er uns dennoch weiterhin relevant. Anm. d. Red.]

Und warum das alles? Während die Gestalt des Claude Rains noble persönliche Gründe für sein Verhalten hatte, ist das Motiv Pasquas Staatsraison – ob wir sie begreifen oder nicht. Und es scheint auch nicht das Ziel der französischen Presse zu sein, daß wir sie begreifen. Im Krieg ist das erste Opfer die Wahrheit. Und seit der algerische Staat durch die Brotunruhen im Oktober vor sechs Jahren in die Krise geriet, ist die Wahrheit täglich ermordet worden. Und seit Oktober 1988 dominiert die französische Sicht der Dinge die westliche Wahrnehmung der Algerienkrise.

Zunächst waren die Islamisten überhaupt noch nicht Teil der Szenerie. Es hieß vielmehr, hier ginge es um einen Kampf zwischen liberalen „Reformern“ und sozialistischen „Konservativen“ – wie in der UdSSR und anderen kommunistischen Ländern, wobei Chadli die Rolle des algerischen Gorbatschow spielte, den der ganze Westen Frankreichs Meinung nach bis zum Letzten unterstützen müsse. Mit dem Auftauchen der FIS wurde der weiterhin als simpler Dualismus beschriebene Kampf nun zwischen „Islamisten“ und „Modernisten“ ausgefochten, wiederum mit Chadli als Helden, diesmal als Verteidiger des säkularen Staates, der vom iranischen Szenario bedroht sei. Als sich herausstellte, daß Chadli, um nur ja an der Macht zu bleiben, durchaus gewillt war, mit der erfolgreichen FIS einen Deal zu machen, wurde er ganz unzeremoniell fallengelassen. Seitdem sollen wir die Ereignisse in Algerien als simples Duell zwischen revolutionären Islamisten auf der einen und der algerischen Armee auf der anderen Seite ansehen.

Diese Lesart wird derzeit in Paris eifrig propagiert. Zwar gibt man zu, daß das derzeitige Militärregime von Algier einiges zu wünschen übrigläßt, aber es sei doch bei weitem der einzig wahrscheinlichen Alternative vorzuziehen: einer blutrünstigen islamischen Theokratie, die, wenn die anderen gewinnen, gar nicht vermieden werden kann. Die Funktion dieser Sicht der Dinge liegt in einer Rechtfertigung der französischen Unterstützung für die massive Repressionspolitik der algerischen Armee; außerdem mobilisiert man auf internationaler Ebene damit ein gewisses Element von Panik, um all jene Länder in die Defensive zu drängen, die – wie die USA, Italien, Spanien und Deutschland – ihre wohlbegründeten Zweifel an den repressiven Pariser Strategien haben und sich davon lieber distanzieren wollen.

Doch das dieserart geförderte Bild ist totaler Unsinn. Erstens entspricht es nicht den Tatsachen, daß die Situation in Algerien in einer einfachen Konfrontation zweier monolithischer Antagonisten besteht, den revolutionären Islamisten auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite. Die Islamisten, selbst die, die ihr Ziele mit Gewalt erreichen wollen, sind tief gespalten zwischen der AIS, die sich der FIS verbunden fühlt und mit dem Regime verhandeln will, und der GIA, die gegen jeden Dialog ist, mit wem auch immer. Auf ähnliche Weise ist auch die politische und militärische Elite, die den algerischen Staat stützt, zwischen den kompromißlosen Dialoggegnern mit der FIS (die sogenannten „Vernichter“) und denjenigen gespalten, die die FIS in den legalen politischen Prozeß wieder einbinden wollen (die sogenannten „Friedensstifter“).

Zweitens stimmt es nicht, daß die Alternative zum gegenwärtigen Regime eine islamische Theokratie wäre. Weder die AIS noch die GIA sind ernsthaft in der Lage, die Regierung zu stürzen, und keine von beiden versucht es auch nur. Was immer ihre Rhetorik auch suggerieren mag, bestehen beide Strategien darin, Druck auszuüben, um die Politik und staatliche Ausrichtung zu beeinflussen, nicht aber, um die Regierung zu stürzen. Man kann der Meinung sein, daß zumindest die extremere GIA wirklich eine Revolution will, gleichzeitig ist aber auch allgemein anerkannt, daß sie die kleinere Fraktion ist, die vor allem in Algier selbst operiert und deren Chancen, ab und zu in die Schlagzeilen zu kommen, wohl auch damit zusammenhängen. Es ist jedenfalls vollkommen absurd zu behaupten, daß sie ganz konkret danach strebt, einen revolutionären islamischen Staat zu etablieren.

Auf eine breitere Basis kann sich die AIS berufen, die vor allem im Osten und Westen des Landes dominiert; sie ist aber die weniger extreme der beiden Bewegungen und hat ihre Treue gegenüber der FIS – und damit ihre Unterstützung für die von den politischen Führern der FIS favorisierte Verhandlungslösung – immer deutlich betont. Insofern ist es völlig irreführend zu behaupten, daß die Gewalt in Algerien das Resultat einer kontinuierlichen Attacke auf den Status quo sei. Im Gegenteil: Sie ist in erster Linie eine Reaktion auf die Haltung des Staates.

Die Gewalt in Algerien ist das Resultat des Beschlusses des algerischen Militärregimes im Februar/ März 1992, die FIS zu verbieten. Sie ist nicht die Folge von Chadlis Sturz und der Unterbrechung der Wahlen im Januar 1992, da die FIS im Zusammenhang mit dieser Entwicklung ihre Anhänger immer um Besonnenheit bat und alles tat, um sich an die Gesetze zu halten. Die schicksalschwere Entscheidung, die FIS für illegal zu erklären, zerstörte jegliche Basis für jene Islamisten, die bis dahin in der Mehrheit gewesen waren und erfolgreich für eine politische Strategie innerhalb der Legalität argumentiert hatten. Die Initiative ging nun sofort an jene, die sich für einen Guerillakrieg aussprachen. Zweifellos wäre der größte Teil der derzeitigen Gewalttätigkeiten beendet, wenn die FIS wieder legalisiert würde.

Es stimmt auch nicht, daß die Aufhebung des FIS-Verbots nur das Vorspiel zu einem weiteren großen Wahlsieg der FIS – und damit einer islamischen Theokratie per Wahlurne – sein könnte. Fast immer wird dabei vergessen, daß der berühmte Wahlsieg der FIS im Dezember 1991 insofern ein einmaliges Ergebnis war, als von über 13 Millionen Wahlberechtigten nur 3,26 Millionen zur Wahl gingen; die FIS gewann im ersten Wahlgang 188 Direktmandate und hätte im zweiten 75 Prozent der Sitze gewinnen können. Möglich geworden war dieses eher verrückt zu nennende Ergebnis einerseits durch die niedrige Wahlbeteiligung, andererseits aber auch durch

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den bemerkenswerten Einbruch von FLN-Stimmen (möglicherweise durch Überläufer); hinzu kam das Wahlsystem, das den kleineren Parteien in die Hände spielte. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die FLN bei einer neuen Wahl sehr viel besser abschneiden als 1991, so daß allein deshalb die FIS viele Sitze wieder verlieren würde. Selbst wenn die Stimmen für die FIS gleich hoch wären, würde das simple Instrument des Verhältniswahlrechts ausreichen, die FIS auf eine bestenfalls knappe Mehrheit zu beschränken. Selbst in diesem Falle würde das Gleichgewicht im nationalen Parlament ausreichen, Bewegungen von einer pluralistischen Verfassung in Richtung einer totalitären Theokratie zu verhindern.

Diese Möglichkeit jedoch will Paris nicht zur Kenntnis nehmen und versucht, sie um jeden Preis zu verhindern. Die französische Regierung in Gestalt von Monsieur Pasqua behauptet sogar, daß es so etwas wie einen moderaten Islamisten nicht gäbe. Und wenn es sie gäbe, so sollten sie sich zeigen ... Erinnern wir uns an dieser Stelle, daß der ganz besonders moderate Abdelkader Hachani, der nach der Verhaftung von Abassi Madani und Ali Ben Hadsch durch das Militär im Juni 1991 die Führung der FIS übernahm, der die Partei bei den Wahlen 1991 anführte und in den kritischen Tagen im Januar 1992 wiederholt zur Besonnenheit mahnte, kurze Zeit später unter äußerst fadenscheinigen Vorwänden verhaftet wurde. Seitdem wird er ohne Anklageerhebung im Gefängnis festgehalten, wie viele andere seiner moderateren Kollegen auch. Wie soll sich nach Pasquas Vorstellung Abdelkader Hachani zeigen? Wir sollten uns auch daran erinnern, daß alle kleineren islamischen Parteien, die in Algerien weiterhin legal sind, die Legalisierung der FIS fordern. Das wird sie in Pariser Augen zweifellos auch zu Extremisten machen.

Der Streit über „moderat“ und „extrem“ ist im Grunde auch unsinnig; er dient nur dazu, in den westlichen Köpfen Verwirrung darüber zu stiften, worum es geht. Natürlich kann man sagen, daß alle Islamisten in gewissem Sinne „extrem“ seien, da sie sich einer radikalen Doktrin bedienen. Aber die Bedingungen in Algerien sind auch extrem. Es gibt vieles, das die Leute zu Recht wütend macht – und sie politisch und ideologisch radikalisiert. Dabei geht es nicht so sehr darum, ob Algeriens Islamisten „moderat“ sind oder nicht, sondern ob sie zur legalen politischen Arbeit bereit sind oder nicht. Zwischen Februar 1989 und Februar 1992 demonstrierte die große Mehrheit der algerischen Islamisten eindeutig ihren Willen zur Arbeit innerhalb des Rahmens einer pluralistischen Ordnung. Auf die Gewaltstrategien des Guerillakampfes sind sie erst zurückgefallen, seit ihnen im Frühjahr 1992 diese Möglichkeit ohne ersichtlichen Grund durch die selbstmörderische Entscheidung, die FIS zu verbieten, plötzlich und brutal genommen wurde.

Aus diesem Grund spricht vieles dafür, daß der einzige Weg aus der zunehmenden Gewalt und dem katastrophalen Zusammenbruch des gesamten politischen Lebens in der Rücknahme jener schicksalsschweren Fehlentscheidung vom Februar/März 1992 besteht, um den islamistischen Mittelbau, ob ideologisch „moderat“ oder nicht, in den politischen Prozeß wieder einzubinden. Auch ohne Legalisierung der FIS könnte man vielleicht einen Weg finden, die politische Krise zu lösen. Wenn Präsident Zeroual einen solchen Weg sieht, sollte man ihn unter allen Umständen unterstützen. Klar ist jedoch, daß Repression allein nicht funktioniert, daß Repression aber die einzige Politik ist, die Frankreich unterstützen wird, solange Zeroual Präsident ist.

Und das bringt uns zu der Erkenntnis, daß Frankreich ein Protagonist im algerischen Drama ist, und ein französisches Veto gegenüber einer politischen Lösung die Agonie Algeriens verlängert. Die wiederholten Stellungnahmen des französischen Premiers Edouard Balladur und von Außenminister Alain Juppé, es sei „Sache der Algerier, ihre Probleme selbst zu lösen“ und daß „Frankreich sich nicht einmischen will und kann“, sind Humbug. Frankreich mischt sich nicht nur systematisch in die inneren Angelegenheiten Algeriens ein, sondern erkennt Algerien nicht einmal mehr als souveränen, von Frankreich unabhängigen Staat an. Wie kommt es sonst, daß der französische Innenminister die Politik seines Landes gegenüber Algerien bestimmt? Und was suchten französische Paramilitärs in Algerien?

Neben der Wahrheit ist der andere große Verlust der Ereignisse der letzten sechs Jahre Algeriens Existenz als souveräner Staat. Das Land ist nicht mehr unabhängig. Die algerische Armee fungiert mehr und mehr als Verlängerung der französischen Generalität. Frankreich, das alle Versuche Algeriens, sich seines Schuldenproblems durch Neuverhandlung von Zahlungsterminen zu entledigen, zunichte machte, hat sich jetzt in die Rolle des Dirigenten der internationalen Finanzhilfe und der internationalen „Akzeptanz“ des diskreditierten Militärregimes begeben. Was die algerische Bevölkerung betrifft, so darf sie jetzt, da alle Wege zur Demokratie im Namen der Abwehr eines „theokratischen Totalitarismus“ unnachgiebig blockiert sind, darüber nachdenken, daß alles ihre eigene Schuld ist; erstens, weil sie wagte, sich überhaupt von Frankreich unabhängig zu machen, und zweitens, weil so viele von ihnen dann die FIS wählten. Sie können sich nur mit dem Gedanken trösten, daß sie trotz ihrer Irrtümer immer noch das genießen, was Monsieur Juppé Frankreichs „Solidarität“ nennt. Und Monsieur Pasqua ist derweil vergnügt dabei, mit den netten, gewaltlosen, moderaten, prowestlichen und nichttheokratischen Islamisten in Khartoum Geschäfte zu machen.

Am 9. August verbot das französische Innenministerium fünf algerische Emigrantenblätter. Al- Ansar, das in Warschau von „den Partisanen des Djihad in Algerien und anderswo“ publiziert wird, al- Ribat und al-Fath-al-Moubine (alle arabischsprachig), el-Djihad und Front Islamique du Salut, Armée Islamique du Salut (beide französisch) wurden aus dem Verkehr gezogen, weil sie laut offizieller Verbotsbegründung „gewaltsam antiwestlich und antifranzösisch im Ton sind und zur Gewalt aufrufen“.

Hugh Roberts arbeitet am „Centre for Boundary Research“ der Universität London