Keinen blassen Schimmer

■ Brassai in Kassel: Nichts, was dem Werk des Fotografen auch nur ähnelt

Wenn ein Kunsthistorisches Museum wie das in Wien „Dürer“ zeigt, soll auch Dürer zu sehen sein. Es ist dann schon eine Enttäuschung, wenn im Passepartout nur die Reproduktion einer Zeichnung oder eines Kupferstichs zu sehen ist: Die Zeit, die der Konservator zur Präsentation erlaubt hat, so eine beigefügte Erklärung, sei abgelaufen. Eine Enttäuschung – aber keine Täuschung. Diese Leute wissen, was sie tun.

Ob sie im ehrwürdigen Fridericianum zu Kassel wissen, was sie tun, oder ob sie es nicht wissen – es ist gleichermaßen mehr als eine Enttäuschung. Es ist eine Täuschung, wenn man dort eine Ausstellung zeigt, die „Brassai – vom Surrealismus zum Informel“ heißt, und nicht eine einzige Arbeit des großen Pariser Straßenfotografen, die dort zu sehen ist, entspricht dem, was man unter Fachleuten für ein Original halten darf. In der Fotografie ist das Original ein vintage print: „ein Abzug“, der vom Fotografen in der gleichen Werkphase hergestellt worden ist, in der auch das Negativ gemacht wurde.

Wer gelegentlich ins Familienalbum schaut, versteht selbst anhand industriell gefertigter Abzüge, was gemeint ist. Ein Foto ist – wie alles, was altert – ein Kind seiner Zeit. Es bräuchte (jetzt) einen Meisterlaboranten, um von meinem 1960er Baby-Negativ einen Abzug herzustellen, der dem damaligen ähnelt. Im Kunstbereich – also unter Händlern, Sammlern und Museen – hat sich die Definition des vintage print bewährt; sie ist unumstritten.

Die Brassai-Ausstellung in Kassel verzeichnet für die Abzüge einen Yvon Le Marlec; winzig, im Impressum des Katalogs. Die Besucher werden im Glauben gehalten, sie sähen Fotos des Fotografen Brassai – tatsächlich sehen sie nur seine Motive. Selbst einer oberflächlichen technischen Prüfung halten die neu gemachten Vergrößerungen nicht stand. Im Nachthimmel von „Paris et la tour Saint- Jacques, vu de Notre-Dame“ finden sich unerklärliche weiße Punkte. Beim Bild eine Liebespaares auf einer Bank verschwindet der im Schatten liegende Teil ihres weißen Huts im schwarzen Straßenpflaster dahinter. In anderen Bildern werden Dunkelheiten, um Trennungen und Zeichnungen in den Konturen zu erhalten, geradezu beliebig aufgehellt.

Woher man weiß, daß es besser geht? Daß es so nicht gehört? Von Brassai. Seine Vergrößerungen sind so gut gewesen, schon in den 30er Jahren, daß sogar Reproduktionen seiner Fotografien die emotionale Qualität seiner Bilder hochgradig transportieren. Sonst wäre er in einer Zeitungszeit auch kein bekannter Fotograf geworden, und zwar einer, der die erregendsten Momente aus kniffligen Details gewinnt, irrwitzigen Verschränkungen von Auf-, Gegen- und Streulicht, Kontur und Struktur. Im Vorwort des Katalogs behauptet Veit Loers, Direktor des Fridericianums: „Einen Überblick über das fotografische Werk von Brassai aus den Beständen des Nachlasses zusammenzustellen, ermöglicht einen höchst authentischen Zugriff auf das primäre Material“ – das primäre Material sind vintage prints, und in Kassel sind keine zu sehen. Man müßte sie leihen, versichern und konservatorisch schützen. Ein Deal mit den Erben macht eine falsche Sache nicht echt.

Die mangelnde Sorgfalt in der Erstellung der überlaufenen Ausstellung ist auch ansonsten gut zu sehen. Wichtige Bildzyklen sind nicht erkennbar und schon gar nicht als solche ausgewiesen. Es gibt keine Präsentation von Brassai-Büchern in Vitrinen. Seiten aus Zeitungen, in denen seine Reportagen erschienen, sind in den Bibliotheken nachlässig fotokopiert und (dann) fotografisch auf größere Tafeln gezogen worden – ein verheerender Effekt von Unschärfen und Grau. Die Tafeln mit seiner Biographie im letzten Saal sind für ein gehendes und stehendes Publikum typographisch viel zu klein ausgelegt, und für das Porträt des Fotografen Brassai dort – von irgendeiner Vorlage wiederum dilettantisch abfotografiert – wird nicht einmal der Bildautor genannt; Fotografien von Fotografen sind offenbar Naturwunder.

Was für die Ausstellung gilt, gilt genauso für den Katalog: Aufwendige Duotondrucke von großteils mißlungenen – und allemal nicht „authentischen“ – Abzügen sind nicht mehr als ein Abglanz eines Werks, dessen Autor versessen war auf die Magie eines jeden Schimmers. Wie mächtig (oder begrenzt) seine Vision wirklich war, kann eine Ausstellung nicht beantworten, die hinter sämtliche Standards musealer Produktion zurückfällt. Ulf Erdmann Ziegler

„Brassai – vom Surrealismus zum Informel“. Fridericianum Kassel, bis zum 27. November.