■ Die PDS nach dem Fall Kaiser-Nicht
: Traditionsbruch mit Folgen

Die PDS im Glück. Sie hat ihr Ziel, den Wiedereinzug in den Bundestag, erreicht, sie hat das Berliner Prestigeduell gegen Wolfgang Thierse gewonnen und ihre Macht in den neuen Ländern stabilisiert. Die wohlwollende Passivität, mit der sie in Magdeburg die Regierungsbildung ermöglichte, hat ihr eine Gegenkampagne eingetragen, mit der ihr Selbstbild der ausgegrenzten Opposition erst richtig illustriert wurde. Jetzt kämpft der mecklenburgische SPD-Vorsitzende Harald Ringstorff gegen seine Bonner Zentrale für die volle Anerkennung der Partei als potentiellen Partners. Ganz selbstverständlich, in einer Mischung aus politischer Affinität und Pragmatismus, beziehen in Berlin grüne Vordenker die PDS in ihre Planungen für die nächste Regierungsbildung mit ein. In Bonn machen sich inzwischen SPD und Grüne so ihre Gedanken, wie man Gregor Gysis gewitzten Kooperationsangeboten entgehen könnte. Es läuft gut für die PDS.

Sollte man meinen. Doch der Erfolg ist getrübt. Das Trübe kommt aus der Vergangenheit. Gleich die erste Sitzung der neuen Bonner PDS-Fraktion geriet zur Stasi-Debatte. Das klingt fast ein wenig absurd. War es nicht irgendwie selbstverständlich, daß die PDS auch einige MitarbeiterInnen des MfS in den Bundestag entsenden würde? Überraschender als ihre Stasi-Tätigkeit ist denn auch die Tatsache, daß Kerstin Kaiser- Nicht, kaum war sie gewählt, unter dem Druck ihrer Fraktionskollegen schon wieder abtreten mußte. Wollte die Partei hier, an einem eher unbedeutenden Fall, Aufarbeitung demonstrieren und die immer wiederkehrende Debatte über belastete Politiker in ihren Reihen diesmal im Keim ersticken? Wie auch immer, seit dem reinigenden Fraktionsauftakt gerät auch die Vergangenheit anderer PDS-Mandatsträger in den Blick. Im Zentrum des Interesses steht einer, der dort ohnehin seinen angestammten Platz hat: Gregor Gysi, der Vater aller PDS-Erfolge.

Der Fall Kaiser-Nicht, seine unerwartet kompromißlose Bewältigung, hat Maßstäbe gesetzt. Neue Maßstäbe für die PDS. Erst verschwiegene, dann nachgewiesene Stasi-Tätigkeit ging bislang nicht mit Einflußverlust einher. Kaiser- Nicht selbst wurde seinerzeit zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt, obwohl sie Stasi- Kontakte eingeräumt hatte. André Brie wurde wegen seiner Dienste für das Mielke-Ministerium zwar als stellvertretender Vorsitzender abgelöst, doch zum Inner circle der PDS gehört er weiter. Wie auch sollte die PDS, in der neunzig Prozent der Mitglieder aus der einstigen Staatspartei kommen, die Aufarbeitung vorantreiben? Wo der frühere Chef der Dresdner Einsatzleitung, Hans Modrow, den Ehrenvorsitz innehat, geraten IM- Debatten leicht zum Kuriosum.

Wohl in einem Anfall moralisierender Emphase hat Wolfgang Thierse die geschaßte PDS-Abgeordnete als „kleine, miese Denunziantin“ bezeichnet. Man könnte heute, fünf Jahre nach der Wende, ihre frühere Stasi-Mitarbeit ohne allzu große Verrenkung auch als Jugendsünde bewerten. Die qualifiziert sie kaum für den Bundestag. Doch daß ausgerechnet in ihrem Fall so rigide geurteilt wurde, kann eigentlich nur den Anfang PDS- interner Unverhältnismäßigkeit markieren – oder den Beginn des großen Bebens.

Bislang war das Interesse an Gregor Gysis Stasi-Verbindungen nicht übermäßig groß. Die Schwierigkeit der Beweisführung, der allgemeine Überdruß an dieser Art Vergangenheitsbewältigung und die Resistenz seiner Partei gegen Stasi-Vorwürfe haben ihn vor harten Auseinandersetzungen bewahrt. Dabei ist das, was Gysi vorgeworfen wird, keine Jugendsünde. Wenn der Anwalt, wie die Akten nahelegen, der Staatssicherheit über seine ehemaligen Mandanten berichtet hätte, träfe das ins Zentrum seiner politischen Selbstinszenierung. Als Oppositioneller par excellence könnte er sich schwerlich weiter präsentieren, falls er einst selbst mit dem Unterdrückungsapparat gegen Oppositionelle paktiert hätte.

Gysis heutige Rolle, die strammer werdende Indizienkette und die neue Rigorosität, die die Partei im Falle Kaiser-Nicht an den Tag legte, machen ihn verwundbar. Um so strikter gerät seine Verteidigungsstrategie. Anders als Manfred Stolpe etwa, der seine Treffen und Gespräche nie in Abrede stellte, sondern nur deren Charakter anders als seine Gegner bewertet wissen wollte, bestreitet Gysi jegliche Mitwirkung beim Zustandekommen der Stasi-Informationen. Stolpe war immun gegen Indizienbeweise, Gysi fordert sie geradezu heraus.

Doch auch jenseits der spektakulären Weiterungen, die sich jetzt ergeben könnten, gewinnt der jüngste Fall herausragende Bedeutung. Mit ihm reagiert die Partei wie jede andere. Erstmals seit dem Ausschluß der Führungsgarde im Herbst 89 stellt sie ihren Nimbus als mentale Schutzgemeinschaft in Frage. Das trifft den Nerv der Partei, ihr Erfolgsgeheimnis.

Mit dem Slogan „Meine Biographie beginnt nicht erst 1989“ hat Rolf Kutzmutz seinerzeit in Potsdam einen vielbeachteten Wahlerfolg erzielt. Es wirkt kaum wie ein Zufall, daß ausgerechnet mit dieser Kampagne das Comeback der lange abgeschriebenen Partei eingeläutet wurde. Der sanft dahekommende Slogan, vorgebracht von einem ebenfalls Stasi-Belasteten, wendete erstmals die DDR- Verstrickung zum Wahlargument. Was bislang nur als Hypothek der Partei, ihrer Mitglieder, der Geschichte der DDR und ihrer BürgerInnen wahrgenommen worden war, wandelte sich, von der PDS selbstbewußt vorgetragen, zu einem Moment ihrer Attraktivität. Wo die neuen Verhältnisse und die alten Biographien Selbstbewußtsein unmöglich zu machen schienen, wurde der trotzige Umgang mit der Vergangenheit zum Wahlschlager, weit über den Kreis der wirklich Belasteten hinaus. Ihre Stärke verdankt die Partei dem Widerstand gegen die Umwertung aller Werte und die Entwertung der Biographien. Durch nichts hat die PDS das deutlicher herausgestellt als durch ihre augenzwinkernde Solidarität, die auch für die bloß Angepaßten von einst um so überzeugender wirkte, als sie noch die Agenten der alten Ordnung mit einschloß.

Diese Tradition ist mit Kerstin Kaiser-Nichts Ausstoßung gebrochen. Eine sich aufarbeitende PDS kann weder ihre Schutzfunktion erfüllen, noch kann sie weiter das Unbehagen an der Entwertung der Vergangenheit in politische Zustimmung verwandeln. Unterstellt, die Fraktion wollte wirklich einen neuen Umgang mit ihrer Vergangenheit signalisieren, so hat sie damit nur das Dilemma der Partei hart ausgeleuchtet: Um alle schönen Wahlerfolge in Politik zu verwandeln, müßte sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Nur so ließen sich die tiefsitzenden Vorbehalte ihrer potentiellen Partner überwinden.

Doch würde sie sich ernstlich auf das einlassen, was ihr bislang noch immer als „neue Inquisition“ erschien, würde sie gerade damit die Basis ihres Erfolgs zerstören. Hierin, nicht in den möglichen Konsequenzen für Gregor Gysi, liegt die eigentliche politische Brisanz des jüngsten Falles. Matthias Geis