Geschmuggelter Gründungsmythos

■ Wie die trojanischen Altertümer im Wilhelminischen Reich zum „ewigen deutschen Besitz“ umgedeutet wurden

Ob die großen Kunstwerke des Altertums, die die Museen Europas zieren, allesamt rechtmäßig dort hängen, stehen und liegen, ist mehr als zweifelhaft. Museumskuratoren sehen sich heute verschämt als Treuhänder der „Weltkunst“. Aber ehe diese Ideologie der „Exterritorialisierung“ antiker Kunstwerke die ursprünglichen Methoden des Erwerbs mit einem gnädigen Schleier verhüllte, war der Zusammenhang zwischen imperialem und musealem Geltungsdrang offensichtlich – auch den Zeitgenossen.

Die Selbstfeier der imperialistischen Staaten als legitime Anhäufer antiker Kunstwerke erfuhr in Deutschland eine eigenartige Zuspitzung. Die Deutschen hatten sich durch die Jahrhunderte mit Identitätsfragen herumgequält, die für die westlichen Nachbarn kaum noch von Belang waren. Selbst an anständigen Gründungsmythen mangelte es. Daß der edle Francio aus dem brennden Troja floh und seine Nachfahren zu Begründern der fränkischen Krone wurden, war eine allzu schäbige Kopie der Äneas-Sage und setzte sich zu Recht nicht durch. Dann wurde zum Entzücken früher Identitätsstifter (und später, im 19. Jahrhundert, der romantischen Nationalisten) gegen Ende des Mittelalters die „Germania“ des Tacitus wiederentdeckt. Aber handelte es sich bei den germanischen Stämmen, deren Tugenden Tacitus mit solcher Verve pries, tatsächlich um Vorfahren „der Deutschen“? Schließlich, im 19. Jahrhundert, die Schatzfunde von Eberswalde und Spandau, die nachweisen sollten, daß die Gegend um die neue deutsche Reichshauptstadt schon vor der Völkerwanderung nicht nur von unseren Vorfahren besiedelt, sondern noch dazu Ort bedeutender künstlerischer Produktion gewesen war. Es war diese Suche, die Sehnsucht nach den Wurzeln, die im neuen deutschen Reich eine unterirdische Beziehung zwischen den Schatzfunden in Brandenburg und Kleinasien schuf. Unterderhand verwandelte sich der illegal nach Berlin verbrachte Priamos- Schatz zum deutschen Kulturgut, heim ins Reich gebracht von den Anstrengungen einer deutschen Wissenschaft: der Archäologie. Und mit dem Eberswalder beziehungsweise Spandauer Schatz zusammen ausgestellt im Museum für Vor- und Frühgeschichte, heute Martin-Gropius-Bau.

Diese Einverleibung fiel deshalb so leicht, weil seit den Tagen Winckelmanns und der deutschen Klassik die alten Griechen zu Wahlverwandten der modernen Deutschen erklärt worden waren. Was aber ursprünglich als universal gültiges „griechisches“ Humanitätsideal postuliert worden war, dem die Deutschen nachzuleben hätten, verwandelte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in die Anbetung außerordentlicher Feldherrn, gewaltiger Kriege und großflächiger Staatengründungen. Vom klassischen Griechenland wandte sich die öffentliche Phantasieproduktion nach vorne, hin zu Alexander dem Großen und nach rückwärts, zurück zum trojanischen Mythos.

Schliemann war davon überzeugt, mit seiner Methode der „Bergung“ den Priamos-Schatz gerettet zu haben – vor der Gier analphabetischer Hilfskräfte und korrupter osmanischer Verwaltungsbeamter. Als er auf das stieß, was die Wissenschaftler heute den Schatz A nennen, war das Archäologische Museum Istanbul kurz vor seiner Vollendung. Leiter der Ausgrabungen im Osmanischen Reich aber war jener Osman Hamdy Bey, dem solche Kleinigkeiten wie die Entdeckung und Ausgrabung des Alexander-Grabes zu danken sind. „Die ganze gebildete Welt wird mir Beifall klatschen, weil ich das Werthvolle, das ich fand, für mich behielt und somit für die Wissenschaft rettete“ – so Schliemann später in seinem lügenhaften Bergungsbericht. Beifall klatschte auf alle Fälle Kaiser Wilhelm I. In seinem Dankesschreiben an Schliemann gibt der Monarch seiner Genugtuung Ausdruck, daß „Sie die Sammlung trojanischer Alterthümer dem deutschen Volke als Geschenk zu ewigem Besitz und ungetrennter Aufbewahrung in der Reichshauptstadt gemacht haben“. Was heißt schon ewig? Christian Semler