Gegen die Freßideologie

■ Ein Gespräch mit Joshua Sobol über sein Stück "Schneider und Schuster"

Joshua Sobol (54) ist vielleicht der umstrittenste israelische Dramatiker. „Ghetto“, ein Stück über die Kollaboration von Juden mit den Nazis, wurde 1984 in Berlin uraufgeführt und stand bis vor kurzem auch auf dem Spielplan des Maxim Gorki Theaters. Bei der Uraufführung von „Jerusalem Syndrom“ 1988 in Haifa, einem Stück über jüdischen Fundamentalismus, kam es zu heftigsten Störaktionen. Sobols „Schneider und Schuster“, das in der Regie von Peter Fitz soeben im Maxim Gorki Theater erstaufgeführt wurde, handelt vom Schicksal zweier jüdischer Schauspieler, die Hitler und Stalin überlebten. Igal Avidan sprach mit Joshua Sobol in Israel.

taz: Wie ist „Schneider und Schuster“ entstanden?

Joshua Sobol: Ich hatte die Idee, über zwei jüdische Komiker zu schreiben, die das 20. Jahrhundert durchqueren, von 1900 bis zum Jahr 2000. Das Stück begleitet die drei Phasen des menschlichen Lebens: Kindheit, Erwachsensein und hohes Alter.

Das Stück ist teilweise auf jiddisch geschrieben. Sie waren überhaupt der erste israelische Dramatiker, der diese Sprache benutzte.

Millionen von Menschen haben in Jiddisch gelebt. Schriftsteller, Dichter und Dramatiker haben auf Jiddisch geschrieben, und all das ist verschwunden. Ich bin mit Jiddisch und Hebräisch aufgewachsen und bin dem Geist der Jiddisch-Kultur stark verbunden. Je älter ich werde, desto stärker spüre ich das Gefühl dieser Zerstörung.

Als Schuster im Stück den Hamlet-Monolog auf Hebräisch halten soll, lehnt er das mit Abscheu ab.

Ich sehe die Beziehung zwischen dem Hebräischen und dem Jiddischen als eine zwischen einem Sohn und seinen Eltern. Eigentlich entstand Jiddisch aus Hebräisch und Deutsch. Dann haben die Zionisten Jiddisch, die Sprache und der Kultur der Diaspora und ihrer Eltern, „ermordet“. Jetzt mit 40 Jahren leiden die Israelis und das Hebräische unter dem Ödipus- Komplex. Fragen sie jeden auf der Straße hier, was er mit jiddischer Kultur verbindet, und er wird sagen, daß das etwas Lächerliches und Oberflächliches sei.

Nach der Uraufführung in Basel im Mai haben die Kritiker das Stück mit dem späteren Beckett, mit Tabori und mit Lubitsch verglichen. Fühlen Sie sich dieser Tradition verbunden?

Mein Stück ist weder von Beckett noch von Tabori beeinflußt, sondern vom Geist der Jiddisch- Schauspieler Djigan und Schumacher und der Tradition des Jiddisch-Theaters in den 30er und 40er Jahren. Die Kritiker kennen diese Tradition nicht, aber das wiederum ist nicht meine Schuld.

In „Ghetto“ erzählen Sie die Geschichte eines jüdischen Theaters im polnischen Wilna zur Zeit des Holocausts. Jetzt greifen Sie wieder auf das Thema Theater zurück. Was finden Sie daran besonders faszinierend?

Ich sehe die ganze menschliche Existenz als ein System von Erinnerungen innerhalb von Erinnerungen, genau wie hier ein Stück innerhalb eines Stückes vorkommt. Wir als Erwachsene erinnern uns an unsere Kindheit. Als Kinder haben wir uns an andere Erwachsene erinnert, die wiederum ihre eigenen Erinnerungen mit sich tragen. Erinnerung und Phantasie sind miteinander verbunden, weil Erinnerung bedeutet, die Vergangenheit zu phantasieren, nicht zu rekonstruieren.

Haben Sie das Stück für Europäer oder für Israelis geschrieben?

Ich habe es für zwei israelische Komiker geschrieben und bin ganz sicher, daß man es in Israel gut verstehen wird. Im dritten Akt werden beide freßsüchtig. Was nur eine Metapher für die Konsumgesellschaft ist. Schauen Sie jetzt aus dem Fenster heraus, wie viele Autos die Luft „fressen“. Es geht bei mir nicht um Ökologie, sondern darum, daß man die Existenz vergiftet damit, daß man sie gedankenlos konsumiert, die Marktideologie. Das ist für mich die post- ideologische Zeit, in der wir uns jetzt befinden. Als die Welt der Ideologie und der Gulags verschwand, entstand keine neue Ideologie des Friedens, wie man vielleicht erwartet hatte.

Und diese neue Ideologie, Gewinn um jeden Preis, infiltriert inzwischen auch das Theater. Was bedeutet das für dieses Medium?

Das ist die amerikanische „rating“-Kultur. Es ist völlig uninteressant, wie viele das Buch gelesen haben, sondern nur wie viele es gekauft haben. Mich selbst interessiert überhaupt nicht, wie viele Zuschauer mein Stück „Schöner Toni“ sehen, das ich jetzt in Jerusalem inszeniere. Das israelische Abonnenten-System hat das Theater umgebracht. Vor kurzem habe ich ein Stück des Jerusalemer Chan-Theaters besucht, das in einem regionalen Schauspielhaus gastierte. Ein Zuschauer hat mich plötzlich gefragt, welches Theater heute hier spielt. Weil er eine Karte abonniert hatte, interessierte ihn nicht, was oder wer dort spielt. In „Schneider und Schuster“ protestiere ich gegen diesen Trend: Am Ende sitzt Schneider am Tisch voll bis zum Platzen und bedauert es, daß jemand anders den Rest seiner Speisen essen wird.

Sie werden in Deutschland immer bekannter. Im Mai wurde in Mannheim ihr Stück „Auge in Auge“ und im Juni wurde „Schöner Toni“ in Düsseldorf aufgeführt.

Ich bin natürlich zufrieden, daß immer mehr Zuschauer meine Stücke überall sehen werden. Wegen der aufgeladenen Vergangenheit wird das Verhältnis von Juden und Deutschen nie neutral sein. Und für mich ist der israelisch- deutsche Dialog der wichtigste, den wir führen, und steht auf derselben Stufe wie der israelisch-palästinensische Dialog.

Haben Sie nicht manchmal Angst, daß manche Deutsche ihre kritische Behandlung der israelischen Besatzung als einen Freibrief für den Holocaust verstehen?

In einem Stück von Beckett sitzt ein Mann auf dem Bett und spricht mit der Stimme einer Frau, der er einen großen Schaden zugefügt hatte. Jetzt ist sie sein Gewissen und sie schlägt vor, daß er das Licht ausmacht, so daß keine niederträchtigen Augen ihn in seiner Empfindlichkeit beobachten können. Er macht es aber nicht, und das ist für mich der Sinn des Theaters. Wenn niederträchtige Augen im Saal sitzen, dann ist das ihr Problem, nicht meines.