Aus der Sprache Häuser wachsen lassen

Der Architekturgeschichtler Julius Posener wird neunzig Jahre alt / Der Mitarbeiter von Mendelsohn und Corbusier ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für sozialverantwortliche, gut gebaute und praktisch nutzbare Architektur  ■ Von Rolf Lautenschläger

Es ist keinen Monat her, da hielt Julius Posener wieder einmal eine Rede anläßlich einer Ausstellungseröffnung zum neunzigsten Geburtstag eines längst verstorbenen Kollegen. Und was bei vielen anderen solcher Auftritte geschah, passierte auch dort: Der alte Mann, noch etwas kleiner geworden als beim letzten Mal, mit schütterem Haar auf dem runden Schädel und runzeligem Gesicht, lebt auf, wird stürmisch, persönlich. „Ich kannte Egon Eiermann“, sagt Posener über den Architekten, „er hat uns was Neues, Aufregendes in der Architektur gezeigt.“ Und dann erklärt er das Neue, das Aufregende mit drängender Stimme, daß die abstrakten, harten Steine fühlbar werden.

Es scheint ein Prinzip in Julius Poseners nun 90jähriger Lebensgeschichte zu geben, allem was abstrakt bleibt entgegenzuwirken. Wer dem Berliner Architekturgeschichtler in Diskussionen oder beim privaten Gespräch begegnet, wird, wie es der Schriftsteller Günter Grass treffend formulierte, „regelrecht aus dem Schlaf gerissen“. Die direkte Sprache, die persönliche Betroffenheit seiner Berichte helfen, den Staub akademischer Belesenheit zu vergessen. Denn Julius Posener spricht nicht über Architektur, als wäre sie nur eine Sache. Er zeigt, wie er sie und ihre Baumeister erlebt hat. Aus poetischen Sprach- und Armbewegungen wachsen Häuser, aus Geschichten Architekten: der „Künstler“ Mendelsohn, der „Meister“ Poelzig, der „harte“ Gropius, „Kisten“-Häring, Bruno Taut, Martin Wagner, Albert Speer, Schmitthenner, Mies van der Rohe oder Scharoun. Er kannte sie alle.

Ein Kollege Poseners, der Schweizer Architekt Adolf Max Vogt, beschrieb einmal die Gründe für die Unmittelbarkeit und Aktualität, mit der Julius Posener Baugeschichte erzählt: „Posener hat die wichtigsten Ereignisse von der Zeit des Bauhauses her miterlebt. Er hat nicht nur in Paris und London gearbeitet, sondern auch in Palästina und im Fernen Osten. Er hat eine Architekturschule aufgebaut. Diese breite und tiefe Kenntnis ist mit Charakterstärke und großer Intelligenz verbunden. Einen Mann wie ihn gibt es nicht ein zweites Mal in der Architekturszene in Deutschland.“

Ein Schlüssel zum lebendigen Wissen über Architektur liegt sicher in der weitgereisten Erfahrung. Ein anderer, weit wichtigerer jedoch, liegt in Poseners Herkunft. Seine Wurzeln sind die eines großbürgerlichen Deutschen, der Jude ist: Julius Posener kam am 4. November 1904 als Sohn einer jüdischen Künstlerfamilie im noblen Berliner Westen zur Welt. Nach dem Abitur am Zehlendorfer Reformgymnasium studierte er von 1923 bis 1929 an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg Architektur.

Julius Posener absolvierte sein Architekturstudium in einer Zeit baulicher Umbrüche: Walter Gropius baute in Dessau das Bauhaus, Erich Mendelsohn in Berlin kühne Verlagshäuser und Le Corbusier in Paris die Villa Savoye – die erste „Wohnmaschine“. Doch der Student behielt gegenüber den Experimenten der Avantgarde eine klare Distanz; doch nicht, um das Traditionelle und Konservative zu propagieren, sondern im Plädoyer für eine sachliche Architektur. „Was befriedigt“, schreibt Posener kurz nach seinem Studium über die qualitätvollen Bauten seine Kinderzeit, „ist nicht das Raffinierte, auch nicht das restlos Durchkonstruierte. Es ist die Sicherheit, mit der die Sachen an ihrem Platz stehen, die Klarheit, mit der sie ihren einfachen Zweck erfüllen.“

In dem „neuen Stil“ – gut gebauter und praktisch nutzbarer Architektur – den Peter Behrens oder Hermann Muthesius verkörperten, lagen für Posener die eigenen und die eigentlichen Wurzeln der Moderne. „Die Zeit hat Ungeheueres an Reformarbeit geleistet“, bemerkt er in einem Gespräch mit der taz: „Zum Beispiel in Hellerau bei Dresden. Beim Neubau der Fabriksiedlung fragte man bereits die Arbeiter, wie sie ihre Wohnhäuser haben wollten. Sie sollten sie sogar skizzieren. Im Städtebau wurden große offene Anlagen für Mietshäuser geplant, keine engen Hinterhöfe. Die Stadt sollte durchgrünt sein. Alle modernen städtebaulichen Entwicklungen sind damals bereits vorgedacht worden. Die Zeit hat Grundsätzliches schon getätigt.“ Es bleibt Julius Poseners Verdienst, den neuen Stil jener Zeit aus den gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Umbrüchen heraus zu erklären, die auch seine eigenen waren. In Poseners großem Werk über das Berlin zur Zeit der Jahrhundertwende zieht sich deshalb die Erinnerung an den Bau- und Lebensstil jener Jahre wie ein roter Faden durch das Buch. „Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur“, so der Titel des „opus magnum“ aus den 70er Jahren, ist gleichsam Biographie, Kultur- und Baugeschichtsbuch.

Während der praktischen Tätigkeit Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre in verschiedenen Architekturbüros, zuletzt bei Mendelsohn in Berlin, und auf den „Wanderjahren“ nach Paris zu Le Corbusier, nähert sich Posener dem Neuen Bauen. „Le Corbusier war das Phänomen dieses Jahrhunderts“, erinnert er sich in seiner Autobiographie („Fast so alt wie ein Jahrhundert“, Berlin 1990) an seinen ersten Besuch, 1929, in Poissy. „Er offenbarte an dem Bau durch den Rhythmus, der das Ganze der Villa Savoye zusammenführt, mir einen ungeahnten Begriff vom Haus.“

Auch die Impulse, die aus den Berliner Siedlungsbauten in den 20er Jahren hervorgingen, entsprachen der geschichtlichen Erfahrung Poseners für Architektur im menschlichen Maßstab. Die Hufeisensiedlung Britz“, die Siedlung „Onkel Tom“ oder die „Weiße Stadt“ stehen bei Posener für eine soziale Architektur, die durch Lage, Konstruktion und Material dem Einzelnen bessere Wohnbedingungen und Vielen die Möglichkeit für ein angenehmeres Zusammenleben bot.

1933 wird Julius Posener von den Nationalsozialisten aus Berlin vertrieben. Er siedelt über nach Paris, wo er für die gerade gegründete Zeitschrift l'Architecture d'aujourd-hui Artikel und Essays über die zeitgenössische deutsche Architektur schreibt. Der „Kritiker“ Posener erzeugt in der Pariser Redaktion erstmals diese Tiefenschärfe seiner „lässigen“ Bilder über Architektur.

Nach einer erneuten Zäsur, 1936, arbeitet er in Palästina im Büro bei Erich Mendelsohn und tritt während des Zweiten Weltkriegs in die britische Armee ein. Die erste Rückkehr nach Berlin, 1946, wird für Posener eine Reise mit „gemischten Gefühlen“. Zu fremd ist ihm die ehemalige Heimat geworden. Überlegungen, nach Haifa zu übersiedeln, verwirft er aber. „Mein ,Zionismus‘, die jüdische Komponente meines Lebens, ist passiv gewesen“, schreibt er im Rückblick.

Posener bleibt zunächst nicht in Deutschland. Erst arbeitet er als Lehrer an der Londoner Brixton Architekturschule, dann als Professor am Technical College in Kuala Lumpur – Stationen, die für Poseners Lebensgeschichte wichtig bleiben. Dort hatte er den ersten Kontakt mit Studenten, machte erste Erfahrungen mit der Vermittlung von Architektur. Dort hatte er Arbeit und Erfolg. Dort lernte er seine erste Frau Charmian kennen.

Als Julius Posener im Mauermonat August 1961 wieder nach Berlin zurückkehrt – er folgte einem Ruf als Professor für Baugeschichte an die Hochschule der bildenden Künste – beginnt jenes „zweite Leben“ als Lehrer, Architekturgeschichtler und Denkmalschützer. In seinen Vorlesungen lehrt er Architektur nicht als bildende Kunst, sondern Baugeschichte als Zeit- und Lebensgeschichte. „Nicht Aufzählung reiner Architekturformen“, formulierte es Kristina Hartmann, eine einstige Studentin, in ihrer Laudatio zum 85. Geburtstag ihres Lehrers, „sondern Lebensformen und Wohnsitten, Bauen aus der Kultur und Zeit heraus, ein episches Bauen, propagierte der Lehrer Julius Posener.“ Seine vergleichende Baugeschichte der Moderne gehört mit zu den authentischsten Darstellungen über diese Zeit, die in der wissenschaftlichen Literatur vorliegen.

Ein Credo Julius Poseners heißt ab jener Zeit: „Man muß Stellung nehmen“. Das führt letztlich dahin, daß der Baugeschichtler in Berlin nicht nur kämpferisch für soziale Minderheiten in politische Debatten einsprang. Zugleich setzt er bis heute sein praktisches Engagement für die Bewahrung historischer Bauten der Jahrhundertwende ein. Doch geht es ihm dabei nicht primär um die Erhaltung alter Häuser und um die Konservierung baulicher Erinnerungen aus der Zeit seiner Kindheit.

Posener geht es bei der Erhaltung um die „Bewahrung des kollektiven Bewußtseins“ einer Kultur, das sich in den Architekturen vergegenständlicht hat. Zwar begann Posener zunächst mit der Denkmal-Initiative bei den Villen von Hermann Muthesius in den bürgerlichen Vororten Berlins. Bald jedoch erstreckte sich sein Wirkungsfeld auf viele Teile der Stadt. Als 1987 mit dem Abriß des Reinickendorfer Virchow-Krankenhauses begonnen wurde, einer großen, im Pavillon-System gebauten Anlage des Architekten Ludwig Hoffmann aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, legte sich Posener mit der Berliner Stadtregierung an.

In seiner Dankesrede für die Verleihung der Ernst-Reuter-Medaille, der höchsten Auszeichnung Berlins, forderte er den Regierenden Bürgermeister Diepgen zur Rettung der alten Bausubstanz auf. Vergeblich. „Der Abriß des Virchow-Krankenhauses“, erinnert sich der Denkmalschützer, „ist eine einzige Skandalchronik. Ich habe alles getan, um die Architektur zu erhalten. Gegenprojekte, die die Umnutzbarkeit der wertvollen Bauten bewiesen, wurden gemacht. Es wurde alles vom Tisch gewischt. Anstatt das aus einem Guß projektierte Krankenhaus von Hoffmann zu erhalten, wurde es in großen Teilen abgerissen.“

In den letzten ein, zwei Jahren ist es ruhiger um Julius Posener geworden. Er hat sich etwas in seinem Häuschen in Zehlendorf vergraben, zusammen mit seinen ebenso alten Leguanen, die sich runzelig durchs Zimmer schleppen. Man vermißt ihn bei Vorträgen, wo er immer als einziger Dias dabei hatte, zündende Ideen einfach herausposaunte und mit den Augen funkeln konnte. An den Debatten um das neue Berlin beteiligt er sich nur noch marginal, auch aus Enttäuschung darüber, daß bei der Stadtentwicklung die gleichen Fehler gemacht werden wie früher: unsinnige Abrisse, wenig sorgsamer Umgang mit Denkmälern, hastige Planungen, megalomane Architekturen.

„Das Ganze geht zu schnell, man sollte sich viel mehr Zeit lassen“, warnt Posener. Für den Architekten Hans Poelzig und dessen frühe Moderne hat er sich dennoch zweimal mächtig in die Bresche geworfen: Posener kämpft für die Renovierung des Poelzig-Kinos „Babylon“ in Mitte und er schrieb über den „Meister“ ein neues großes Buch, das 1994 erschien. „Ich kannte Poelzig. Er war mein Lehrer“, lauten die ersten Sätze, und dann beginnt Architektur wieder lebendig zu werden.