Die „Stütze“, was stützt sie eigentlich?

■ betr.: „Auf der Achterbahn“, taz vom 22.10.94

Liebe Frau Dribbusch, ich finde, Sie sind da den Campus-Soziologen aufgesessen. Deren Erkenntnis- beziehungsweise Veröffentlichungsinteresse: die Armen, die Sozialhilfeempfänger (das sind Sozialhilfeberechtigte, möchte ich mal anmerken), die kommen ja aus ihrem Elend raus, nur keine Panik, ist alles nicht so schlimm.

Wer längere Zeit Soz-Hilfe-Berechtigter ist, dessen Ressourcen gehen verloren. Vorräte brauchen sich auf, Kleidung wird schlechter – was ja in unserer Fassadengesellschaft sofort auffällt. Vor allem aber: die „soziale Kompetenz“ nimmt ab, geht vielleicht sogar verloren: durch angeknackstes Selbstbewußtsein und mangelnde Übung geht die Fähigkeit verloren, sich kompromißfähig und selbstbewußt durchzusetzen, sich in den kleinen, aber wichtigen Status- und Image-Kämpfen zu behaupten.

Denn mit der „Stütze“ (was stützt die eigentlich?) ist Kneipenbesuch mit anderen, Essengehen mit anderen, Kinogehen mit anderen nicht mehr möglich – und so verliert die Gestützte nicht nur sehr schnell andere aus den Augen, sondern auch die Fähigkeit der selbstbewußten, gelassenen Durchsetzung.

Wenn selbst „gut“-ausgebildete Alleinstehende sich als „handlungsfähig“ begreifen, ist das unüberlegter Euphemismus. Selbstbetrug kann man auch sagen. Denn mit Miete und üppigen 520 Mark im Monat fürs tägliche Leben: „handlungsfähig“? Das ist Papier auf dem Schreibtisch hin- und herschieben, aufräumen – aber geschrieben, sprich: gelebt wird nicht. Kann auch niemand mit einer halben Kinokarte im Monat – die wird für den sogenannten Regelsatz nämlich eingerechnet. [...] JoAchim Geschke, Düsseldorf

[...] Es gibt nicht nur Kleinbürgerabkömmlinge mit bürgerlicher Berufsausbildung, aber Einstiegsproblemen. Es gibt auch Leute ohne Beruf oder mit veralteter Ausbildung, mit problematischen Lücken im Erwerbsleben oder gesundheitlichen Minderungen der Erwerbschancen. Die werden alle nicht so gern eingestellt, sagt einem jeder Personalchef, selbst wenn er selbst Soziologe ist und es gut meint. Und wenn doch, werden sie eine Zeitlang mit durchgezogen und dann in Problemzeiten wieder entlassen.

Dies ist eine andere und nicht unerhebliche Ursache für sporadisches Absinken unter die Armutsgrenze. Wenn Frau Dribbusch dann einen Bericht zitiert, nach dem ein Drittel aller Bundesbürger zwischen 1984 und 1992 mindestens einmal unter der Armutsschwelle lag, dann sind darunter sicher einige Akademiker. Bei vielen darunter haut ein solcher Lebenslauf stärker rein: zeitweise ordentlich bezahlte Jobs, zeitweise arbeitlos, dazwischen vielleicht zeitweise als Honorarkräfte, Subunternehmer oder geringfügig Beschäftigte ohne Sozialversicherung, aber mit ergänzender Sozialhilfe. Unsicherheit über das Einkommen in der nächsten Zeit kann ähnlichen psychischen und sozialen Druck auslösen wie ein dauerhaft niedriger Standard.

Anschlußprobleme entstehen: Erziehungs- oder Partnerschaftsprobleme, sinkendes Selbstwertgefühl, Verschuldung, Wohnungsverlust u.ä. Eine unstetige oder nach unten geneigte Einkommenskurve mindert zudem die Rentenerwartungen im Alter, Altersarmut besteht demnächst nicht mehr nur als Erinnerung an die Nachkriegszeit, nein, hier wird ein Problem in die Zukunft verlagert – ähnlich wie bei Umweltfragen.

[...] Viele Sozialleistungen sind in den vergangenen Jahren zusammengestrichen worden – vielleicht sollte die taz besser diese Liste auf der dritten Seite bringen – und aktuell geht es erneut um Abstriche. Möglichkeiten zur Umverteilung von Arbeit (oder von Armut) sind nicht genutzt oder sind abgewehrt worden von denen, denen es besser geht. Eine Relativierung von Armut bereitet den Weg für Waigels und Murmanns weitere Kürzungen. Na, besten Dank auch, das können wir gerade gut brauchen. Arnold Voskamp, Arbeitslosen-

zentrum, Münster