Das Volk und seine Opposition

Im Herbst 89 kam es zur kurzen Liaison zwischen Volk und Bürgerbewegung der DDR. Seitdem gehen beide Seiten wieder ihre eigenen Wege.  ■ Von Matthias Geis

Warum auch muß das Jubiläum mit der Niederlage zusammenfallen? Fünf Jahre nach der Wende finden sich die Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR, die Akteure der friedlichen Revolution, im politischen Abseits. Es ist die zeitliche Koinzidenz von erinnerungsprallen Wendechroniken und aktuellen Wahlanalysen, die ihren schneidenden Bedeutungsverlust in seiner ganzen Schärfe sichtbar macht. Die Akteure des Aufbruchs, der das Ende der DDR einleitete, sind im neuen Deutschland nicht angekommen. Das deprimierende Fazit hat Konjunktur.

Neu ist es nicht. Vor allem diejenigen unter den DDR-Dissidenten, die den Weg der einstigen Opposition nach der Wende eher mit Distanz begleiteten, haben die Entwicklung frühzeitig wahrgenommen. Schon Ende 1990 entwarf beispielsweise Konrad Weiß seinen Mitstreitern eine eher bedrohliche Perspektive: „Sektierertum, Politikunfähigkeit und mangelnder Wille zur Macht“ könnten die Bürgerbewegung schnell zu „Erinnerungsvereinen des Herbstes“ verkommen lassen. „Wir konnten“, so resümierte zur selben Zeit Jens Reich die kurze Erfolgsgeschichte, „zwar die verrammelte Tür eindrücken, aber nicht den neuen Raum auffüllen. Wir konnten für einen kurzen Augenblick die Mehrheit des Volkes mit uns vereinen, so daß die Woge uns nach oben trieb und einen fundamentalen Umbau der politischen Verhältnisse erzwang. Danach verebbte die Welle und setzte uns ins ruhige Brackwasser eines Ostseebodens ab.“ Bereits im Herbst 1990 also deutete sich an, was die BürgerInnen in den neuen Ländern den einstigen Vorkämpfern für Demokratie und Menschenrechte jetzt noch einmal per Wahlzettel bestätigt haben: eine Art politische Abwicklung.

Es hat mit der historischen Fallhöhe zu tun, daß die jüngsten Wahlniederlagen der mit den Grünen vereinigten Bürgerbewegung trotz der lange angelegten Negativtendenz als einschneidendes Ereignis wahrgenommen werden. In den Reaktionen spiegelt sich Unbehagen. Es rührt aus der harten Dissonanz zwischen dem historischen Erfolg, der mit dem Mut einiger weniger eingeleitet wurde, und dem politischen Bann, unter den sie sich heute gestellt sehen – in Wahlen, die mit ihrem Aufbruch erst durchgesetzt wurden. Doch die Höhe, von der die BürgerrechtlerInnen jetzt herabgeholt werden, ergibt sich nicht einfach aus ihrem Erfolg. Lange Zeit wurde ihr Anteil an der glücklichen Entwicklung des Herbstes 89 überhöht. Aus schlechtem Gewissen. Vor allem im Westen glaubte man die eigenen Irrtümer über die Stabilität des DDR-Regimes am ehesten kompensieren zu können, indem man dessen „Bezwinger“ ins Heroische stilisierte. Diesem Hang ist geschuldet, daß der unerwartet spektakuläre Prozeß in der Retrospektive eher der Vehemenz und Überlegenheit der Angreifer als der Erosion des Systems zugeschrieben wurde. Die Klugen aus der Bürgerbewegung haben das Unangemessene dieser Interpretation immer wieder kritisiert und geahnt, welche Hypothek in ihr steckte.

Es brauchte keine Helden, das System zu zerstören. Immerhin, es brauchte mutige, im lange Zeit perspektivlosen Widerspruch geübte Oppositionelle. Und es brauchte die Ausreißer, die die Krise des Regimes erst an den Punkt trieben, an dem der Anstoß des offenen Protestes genügte, um es zu brechen. Niemand war auf die Wende vorbereitet. Die Unzufriedenen in der SED so wenig wie der Rest der DDR-BürgerInnen, weder die „bewaffneten Organe“ noch der Westen. Auch die Opposition nicht, deren Situation bis in den Wendesommer hinein eher vom aufgeladenen Kleinkrieg untereinander als von der Vorbereitung auf die große Auseinandersetzung bestimmt blieb. Fast nirgends in den osteuropäischen Nachbarländern blieb die Opposition derart vereinzelt wie in der ehemaligen DDR. Über Jahrzehnte hinweg waren alle Unzufriedenen ausgetrieben worden oder freiwillig gegangen. Nirgends sonst im Osten gab es für die Herrschenden ein solches Ventil, mit dem der Druck des Unmuts reguliert und die wenigen, stur aufs Bleiben festgelegten Dissidenten in weitgehender Isolation vor der Restbevölkerung gehalten werden konnten. Eher spiegelte das Westfernsehen den DDR-BürgerInnen den Protest im eigenen Lande, als daß sie selbst mit ihm in Berührung gekommen wären. Fast scheint es, als fände diese Distanz in den jüngsten Wahlergebnissen ihren neuerlichen Niederschlag.

Immerhin, im Herbst 89, in einer Zeitspanne, deren kurze Dauer man im nachhinein frappiert zur Kenntnis nimmt, war die Kluft zwischen Volk und Opposition überwunden, die „Brücke in die Gesellschaft“ geschlagen, von der die Bürgerrechtler lange ohne Aussicht geträumt hatten: „Wir sind das Volk.“ Am 9. Oktober resignieren in Leipzig die bewaffneten Organe vor den Montagsdemonstranten, neun Tage später tritt Honecker ab, drei Wochen danach verkündet Günter Schabowski den Fall der Mauer und vollzieht damit den eigentlichen Kapitulationsakt des Regimes. Einen Monat lang, so ließe sich zugespitzt behaupten, hielt die Verbindung von Volk und Bürgerrechtlern, die in den Wochen vor dem 40. Jahrestag mit der offenen Gründung der Oppositionsgruppen eingeleitet worden war. Doch mit der Öffnung der Grenzen, dem Ereignis, das die Wende unumkehrbar machte, begann sich auch die kurze, stürmische Verbindung zwischen Volk und Dissidenz schon wieder zu lockern.

Niemand aus der Opposition hat den Beginn dieser zweiten Entfremdung sicherer erahnt als Bärbel Bohley, die das in den Westen strömende Volk spontan für verrückt erklärte. Den 10. November hat sie „mit der Bettdecke über dem Kopf“ erlebt. Das war ahnungsvoller als alle konsternierten Versuche ihrer Mitstreiter, den großen Zug nach Westen irgendwie doch noch mit den Intentionen der Bewegung zusammenzubringen.

Die Decke über dem Kopf. In den beiden Monaten nach dem Mauerfall haben die Bürgerrechtler unwillentlich die Entfernung zu ihren in Bewegung geratenen MitbürgerInnen neuerlich begründet. Die Machtfrage wurde nicht gestellt, die Perspektiven liefen auseinander, die ökonomische Kompetenz für die Bewältigung der Nach-Mittag-Ära war nicht vorhanden. Die volle Verantwortung für die Gestaltung des Erfolges konnte und wollte die Opposition nicht übernehmen. Gegen das westliche Angebot setzte sie langwierige basisdemokratische Organisationsdebatten und das dünner werdende Vertrauen in den Willen der DDR-BürgerInnen zum vagen, eigenen Weg.

Aus dieser Zeit stammt die Orientierung der Bürgerrechtler auf die Vergangenheit. Über die Monate, in denen unter dem Andrang der Noch-DDR-BürgerInnen der Handel im einstigen „Zonenrandgebiet“ prosperierte, hielt sich das Gefühl, noch immer stünde alles auf Messers Schneide. Der Stasi- Putsch, die neuerliche Stabilisierung der Partei, die Überlebensfähigkeit der Apparate – all das schien als dumpfe Drohung bis in den Januar fortzubestehen. In den Stasi-Komitees und den zähen Kämpfen mit den Machthabern des Übergangs suchten die Herbst-Akteure ihren Erfolg gegen die Drohung aus der Vergangenheit abzusichern. Ihre Bedeutung für die Volksbewegung, die längst schon die berechenbare Westperspektive eingenommen hatte, haben sie dabei verloren.

Die aktuelle politische Randständigkeit der Bürgerbewegung korrespondiert mit der Isolation der alten DDR-Opposition und mit der Distanz, die sich von Montagsdemo zu Montagsdemo vergrößerte. Die frühen Rückschläge und die erdrückende Dominanz der Westparteien, deren Angebot die Bürgerbewegung nichts entgegenzusetzen hatte als den ambitionierten, aber unkonkreten Anspruch gemeinsamer politischer Gestaltung, haben auch die kurzzeitig überwundene Spaltung innerhalb der Opposition neu vorangetrieben. Die Formierung im Bündnis 90, danach die Vereinigung mit den Grünen haben die meisten BürgerrechtlerInnen nicht mitvollzogen. Nur ein Bruchteil der alten Opposition und ihrer führenden Köpfe sind heute noch bei den Bündnisgrünen aktiv. Auch der erfolgreiche Herbst hat keine langfristige gemeinsame Basis geschaffen. Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Mathias Platzek, Rolf Hendrich, Stephan Bickhardt, Wolfgang Templin, Günter Nooke, Ingrid Köppe, Konrad Weiß, Jens Reich, sie alle waren entweder nie bei den Bündnisgrünen oder haben sich faktisch aus der Partei zurückgezogen. Statt der oft beschworenen „Öffnung in die Mitte der Gesellschaft“ gehen nicht nur die ehemaligen DDR-BürgerInnen und ihre einstigen Oppositionellen, sondern diese selbst wieder getrennte Wege.

Nicht gemeinsame Perspektiven, bestenfalls die gemeinsame Vergangenheit und deren Aufarbeitung hat sich als einigendes Band der Opposition erwiesen. Doch kein anderes Anliegen der Bürgerrechtler hat ihren gesellschaftlichen Einflußverlust in den letzten fünf Jahren nachhaltiger befördert. Wären die Bürgerrechtler im Laufe des Jahres 1990 nicht an den Rand gedrängt worden, hätten sie den Vereinigungsprozeß nicht als Opposition gegen die Große Koalition erlebt, sondern als gestaltende Kraft mitvollzogen, die Vergangenheitsdebatte wäre wohl kaum zu ihrem zentralen Thema geworden. Daß die Debatte, jenseits der kurzzeitigen, medial geschürten Enttarnung von Stasi-Zuträgern, niemals eine breitere Resonanz gefunden hat, ist nicht nur der Abwehr einer ohnehin überforderten Umbruchgesellschaft geschuldet. Grundlegend für das große Unverständnis dürfte die ganz und gar gegensätzliche Perspektive gewesen sein, unter der den Akteuren der Aufarbeitung und ihren unwilligen Adressaten die DDR-Zeit erscheinen mußte. Während für die Opposition der Blick in die Vergangenheit auf eine Würdigung ihrer widerständigen Biographien hinauslief, konnte sich die Mehrheit davon kaum mehr erwarten als das nachträgliche Unbehagen an der einstigen Nischenexistenz – oder Schlimmeres.

Die gesellschaftliche Abwehr ist von den Bürgerrechtlern auch dann nicht wirklich realisiert worden, als sie längst offenkundig war. Im Gegenteil. Je schwächer die gesellschaftliche Antwort geriet, desto eindringlicher versuchten sie, ihr Anliegen doch noch durchzusetzen. Doch der Anspruch, eine gelingende demokratische Zukunft sei ohne den kritisch-selbstkritischen Blick in die undemokratische Vergangenheit nicht wirklich zu sichern, fand über die Podien der Aufarbeitungsdebatte hinaus kaum Anhänger. Erst diese Resonanzlosigkeit und die Personalisierung der Aufarbeitung brachten den rigiden Ton in die Debatte, den die gelassenen Akteure des Herbstes vorher nie gepflegt haben. Es waren keine Oppositionellen, die Honecker nach seinem Sturz von Asyl zu Asyl trieben und unter dem Eindruck der Korruptionsenthüllungen Rache forderten.

Mit dem Blick in die Vergangenheit hat die einstige Opposition ihren politischen Bedeutungsverlust betrieben, kein anderes Phänomen hat die unterschiedlichen Erwartungen des Umbruchs deutlicher akzentuiert. Während die Mehrheit von der alltäglichen Bewältigung der neuen Verhältnisse okkupiert war, begannen die Bürgerrechtler ihre Verfolgung durch die Staatssicherheit aufzuarbeiten. Während ihnen erst jetzt, aus den Hinterlassenschaften des Unterdrückungsapparates, dessen ganze Infamie zu Bewußtsein kam, erschien vielen BürgerInnen unter dem harschen Eindruck der neuen Realität die alte schon wieder in versöhnlicherem Licht.

Diesem Umstand ist die Wiederbelebung der PDS geschuldet, mit der die Bürgerrechtler endgültig auf den Boden der Tatsachen geholt wurden. Daß sich ihre eigene Niederlage parallel zu den Wahlerfolgen der SED-Nachfolger vollzog, ist für die einstige Opposition die bitterste Pointe der Nach-Wende-Entwicklung. Sie zwingt die Bürgerrechtler zum Sarkasmus. Das Gespür für die wandelnden Stimmungslagen und die Fähigkeit zu schnellen Wendungen hingegen waren nie ihre Sache. Das erst hat ihren Erfolg im Herbst ermöglicht – und ihren anschließenden Mißerfolg befördert. Das immunisiert sie gegen die Verlockungen eines verqueren Arrangements.