Freies Geleit für den Vorstand

Zeissianer fordern: Vorstand, verpfeif dich! / Nicht zwischen den Betrieben in Ost und West, sondern zwischen „oben“ und „unten“ geht der Bruch / Sanierungskonzepte ja – Kahlschlag nein  ■ Aus Oberkochen Detlef Krell

Herbstgolden lodern die stillen Berge der Schwäbischen Alb. Im Talkessel liegt die kleine, feine Stadt. Heute ist sie um ihre Ruhe gebracht. Oberkochen brodelt. Am Hang ragt, wie ein väterlicher Zeigefinger, ein weißblauer Turm aus der Siedlung. „Carl Zeiss“ steht darauf weithin zu lesen.

Die Jenaer Optikfirma kam nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus der sowjetischen Besatzungszone in die Ostalb, und sie beförderte das Bauerndorf zur High-Tech-Insel im Grünen. Knapp 10.000 Menschen leben heute in Oberkochen, und sie leben nicht schlecht. Gepflegte Häuser, gefegte Bürgersteige, kleine Läden und große Autos, nichts Aufregendes. Man hat sich, so schien es bis vor einigen Tagen, miteinander eingerichtet, die Firma und ihre Stadt.

„Die haben gewartet, bis die Wahlen vorbei waren. Dann sind sie raus mit der Sprache.“ Beim Griechen an der Hauptstraße sitzt ein junger Zeissianer, der die Gruselmeldungen aus dem Vorstandsturm noch recht gelassen vernimmt. 3.000 Leute will „Carl Zeiss“ in den nächsten beiden Jahren loswerden, davon rund 1.200 in Oberkochen.

„Zuerst kommen die Vorruheständler dran“, vermutet der Dreiundzwanzigjährige. „Ich bin jung, habe keine Kinder und keine Schulden. Schlimm ist es für die Familien, die sich für 400.000 Mark ein Haus gebaut haben und nun abzahlen müssen. Und was wird mit denen, die in Betriebswohnungen zur Miete wohnen? Zeiss gehört hier die halbe Stadt.“ Der Glasschleifer macht ein großzügiges Angebot: „Ich würde meinen Arbeitsplatz hergeben, damit ein Älterer seinen behalten kann. Mit der Firma bin ich nicht sehr verbunden. Die hat mich genug ausgetrickst. Und ich finde schon wieder was.“ Niemand hatte mit den Entlassungen gerechnet, doch ein Wunder sei die Zeiss-Krise nicht: „Die Manager sind faul geworden. Die gehen mittags spazieren, und wir Arbeiter müssen im Akkord schuften.“

In der „Bacchusstube“ hocken sieben Schwaben beim Vormittagsbier. Die Vorruheständler beugen sich über ihre Zeitungen und wettern: „Bopfingen wird nun doch zugemacht.“ Vergangene Woche hatte der Vorstand noch behauptet, alle Standorte würden erhalten bleiben. Am Montag hieß es vor versammelter Belegschaft, der Vorstand habe über die Zukunft des nahe gelegenen Zweigwerks noch keinen Beschluß gefaßt. Einen Tag später aber verkündete Zeiss-Sprecher Jobst Hermann, ein Mann, der noch so lange sprechen darf, bis er seinen Amtsnachfolger gefunden hat: „Wir werden eine Segmentierung der Fertigung vornehmen. Das Zeiss-Werk Bopfingen wird in seiner Gesamtheit in Oberkochen angesiedelt.“ Die Männer beim Bier schütteln den Kopf. 100 Leute von Bopfingen nach Oberkochen, und hier werden 1.200 entlassen? Da kann keiner glauben, was in der Zeitung steht: Die 100 „verlieren nicht grundsätzlich ihren Arbeitsplatz“. Wann es denn losgehe oben am Turm, fragt einer in die Runde. „Na, 5 vor 12“, informiert die Schwäbische Post. Die alten Zeissianer sehen durch die verregneten Fenster nach draußen: „Wird schon heller. Daß wir nicht so naß werden.“

Die Regenwolken haben sich verzogen, als sich vor dem Zeiss- Turm die ersten Grüppchen treffen. Rasch füllt sich der Platz, aus der Stadt kommen immer mehr Menschen herauf, Busse treffen ein von den umliegenden Zeiss- Standorten, aus Nattheim und Aalen und, vom IG-Metall-Sprecher besonders begrüßt, aus Bopfingen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit bis 5 vor 12, jetzt will auch die Belegschaft des Hauptwerkes heraus zur Kundgebung. Aber die Chefetage zeigt ihr den Stinkefinger. Das Tor bleibt zu. Wer protestieren will, muß sich durch das Drehkreuz fädeln, schön der Reihe nach und nur mit der Codekarte. Da kommt Freude auf. Die Leute kochen und machen sich in Sprechchören Luft. „Wenn der Vorstand so weitermacht“, prophezeit der IG-Metaller Roland Hamm, „dann riskiert er, daß wir ihn morgen nicht ins Werk lassen.“ Punkt zwölf rasselt es plötzlich im Torgestänge. Nun ist der Zugang frei. Edwin Michler kann seine Rede beginnen.

Am Vortag war ein Ultimatum des Betriebsrates abgelaufen. Die Belegschaftsvertreter forderten Einsicht in das Sanierungskonzept. Der Vorstand rückte zwei Papierbündel heraus, aber, wie der Betriebsratsvorsitzende den KollegInnen mitteilen muß, „offenbar nicht vollständig“. Schon jetzt fühlen sich die Zeiss-MitarbeiterInnen erneut an der Nase herumgeführt. Erste Erkenntnis des Redners: „Der Vorstand muß seine Entscheidung auch auf andere, nicht öffentliche Untersuchungen gestützt haben.“ Bisher erfuhr die Belegschaft nur von Entlassungen, kein Wort von neuen Erzeugnissen, neuen Technologien oder zukunftsweisenden Strukturveränderungen an den Zeiss-Standorten. Der Betriebsrat will das Konzept durch einen Gutachter seines Vertrauens prüfen lassen. Dies wiederum verwehren ihm die Firmenchefs. „Will dieser Vorstand den Wandel“, fragt Edwin Michler, „oder will er verwandelt werden?“

Die Versammelten wissen, daß ihre Weltfirma ohne Sanierung keine Chance mehr hat, und dazu werden auch Entlassungen gehören. Doch bevor mit Zahlen hantiert wird, sollen alle Karten auf den Tisch. Ihren hochdotierten Chefs trauen sie nur noch Taschenspielertricks zu. Roland Hamm, IG-Metall-Bevollmächtigter in Aalen, nennt es ein „Trauerspiel“, was sich „täglich mit neuen Varianten“ in den Chefetagen des Stiftungsunternehmens abspiele. Der Vorstand solle sich „zum Teufel scheren“.

Dort war er aber schon. Die ZeissianerInnen erfuhren es aus der Zeitung. Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) hat nach einem Gespräch mit Zeiss-Stiftungskommissar Hermann Franz keine Zweifel mehr, daß die Firma sich „aus eigener Kraft“ sanieren könne. Er sei „überzeugt, daß das Sanierungskonzept des Zeiss-Vorstandes für das Optik-Unternehmen greifen wird“. Die Stuttgarter Landesregierung, die sich eben erst selbst eine totale Haushaltssperre für den Rest des Jahres verhängt hat, wolle immerhin für „die Weltfirma von der Ostalb“ öffentliche Aufträge heranschaffen.

Dieser Teufel, schimpft Hamm, habe sich auf der Unternehmerseite eingerichtet, ohne die Meinung der Belegschaft zu hören. Es müsse „mit dem Teufel zugehen, wenn wir uns so etwas bieten lassen“. Das kommt gut an bei den über 1.000 aufgebrachten DemonstrantInnen. „Ernst Abbe – wo ist Dein Geist?“ heißt es auf einem Transparent. Die Belegschaft ahnte es längst: Der „sozialreformerische“ Gründergeist von Ernst Abbe und Carl Zeiss ist aus dem Führungs-Turm verflogen. Satte Gewinne haben die Herrenriege träge gemacht. Sprechchöre fordern immer wieder: „Vorstand raus!“

Noch in dieser Woche, am Freitag, will der baden-württembergische Regierungschef eine Delegation des Konzernbetriebsrates empfangen. Roland Hamm: Nicht im CDU-Teufel, sondern im SPD- Wirtschaftsminister Dieter Spöri sehen sie ihren „Verbündeten“: Spöri habe schließlich das Vorstandskonzept als „Kostencrashprogramm“ bezeichnet. Und aus dem Osten habe sich Jenoptik- Chef Lothar Späth gemeldet: Der Zeiss-Vorstand „strotze vor Konzeptionslosigkeit“ und solle „endlich Schluß machen mit dem Ablenkungsmanöver, als ob die Schuldigen der Krise im Osten säßen“. Wieder gibt es mächtigen Beifall.

Bei den Oberkochenern verfängt die Ost-West-Masche schon lange nicht mehr. Kein Transparent stellt mehr „Aufschwung Ost“ und „Abschwung West“ gegenüber. Die ArbeiterInnen würden nur gern wissen, was denn aus der Treuhand-Mitgift von 587 Millionen Mark geworden ist. Hamm zeigt auf den „Elfenbeinturm“ und urteilt: „Die Herren haben das Geld falsch eingesetzt.“

„Das einzige, was hier geteilt wird, ist die Belegschaft“, meint ein Kollege düster, „nicht aber der Optimismus des Ministerpräsidenten.“ Spalten lassen wollen sich die Zeissianer nicht, auch dafür stehen sie heute dicht gedrängt vor dem Turm. Hier lassen sich auch die eigenen Sorgen ein bißchen wegdemonstrieren.

Kein Mitarbeiter, sondern der Oberkochener Bürgermeister Peter Traub stellt die unbequeme Frage: „Wie viele haben schon ihre innere Kündigung ausgesprochen und sehen Zeiss nicht mehr als ihr Unternehmen?“ Der Gemeinderat der Zeiss-Stadt hat jetzt eine Resolution unterschrieben, in der er die Geschäftsführung „an den Stiftungsgedanken von Ernst Abbe“ erinnert, „wonach die Erfüllung sozialer Pflichten gegenüber der Gesamtheit der in den Zeiss-Werken tätigen Mitarbeiter im Vordergrund stehen“ solle.

Stiftungskommissar Franz hat auf beharrliche Fragen nach weiteren 1.750 zur Disposition stehenden Arbeitsplätzen folgende Pläne zugegeben: Mit dem Verkauf von Firmen, „die nicht zu den Kernaktivitäten von Zeiss gehören“, soll das Geld für einen noch gar nicht ausgehandelten Sozialplan beschafft werden.

3.000 hin, 1.750 her, raus aus der „Optik“ oder drin bleiben im „Photo“, die Verwirrung in diesem „gigantischen Verschiebebahnhof von Arbeit und Arbeitsplätzen“ ist groß genug und läßt sich jetzt nicht aufklären. Die Oberkochener und die Nattheimer, die Bopfingener und Aalener wollen nur noch das eine – und das hören sie jetzt ihren Kollegen Willy Theilacker sagen: „Wir können diesem Vorstand nicht den Zugang zum Werk verwehren. Das wäre Nötigung. Aber wenn der Vorstand noch einen Funken Anstand hat, dann erklärt er seinen Rücktritt. Noch vor dem Wochenende.“ Die Belegschaft, versichert er unter zustimmendem Gelächter, „wird ihm freies Geleit gewähren.“