Verpaßte Chance zum großen Umbau

■ Oskar Negt und Helga Ziegert zur Krise der Arbeitsgesellschaft

Die Massenarbeitslosigkeit von über sechs Millionen Menschen in Deutschland stellt radikale Fragen – sogar so radikale, daß Gewerkschaft und SPD mit ihrer Beantwortung völlig überfordert sind. Dieses Bild vermittelte zumindest eine Diskussionsveranstaltung des SPD-Unterbezirks West, zu der gestern abend Bremens DGB-Vorsitzende Helga Ziegert und der Hannoveraner Soziologe Oskar Negt ins DGB-Haus eingeladen worden waren. Versuche einer Antwort kamen lediglich aus dem Publikum – in Form von Zitaten des Grünen-Politikers Joschka Fischer.

Unwidersprochen hatten zuvor rund 100 ZuhörerInnen Oskar Negts Thesen vom Ende der klassisch-kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zur Kenntnis genommen. „Die heutige Massenarbeitslosigkeit hat mit konjunkturellen Schwankungen nichts mehr zu tun“, sagte er, „Vollbeschäftigung wird folglich auch nicht mehr von einem Wirtschaftsaufschwung zu erwarten sein.“ Gleichzeitig aber werde die „Nicht-Reform“ dieser Zustände immer unbezahlbarer.

Einen Ausweg sieht Negt nur in der „Stärkung des Gemeinwesens“. Eine weitere Erhöhung der Produktion überflüssiger oder gar schädlicher Dinge sei dagegen keine Lösung: „Um ein Autowerk zu kämpfen, das einzugehen droht, ist doch falsch! Wir müssen uns wieder fragen, ob wir das, was da produziert wird, wirklich wollen.“

Dennoch liege die Lösung nicht in einer Freizeitgesellschaft: „Arbeit ist zentral für die Identitätsbildung der Menschen.“ Mußefähigkeit sei völlig verlorengegangen und deshalb Muße auch kein denkbarer Lebensinhalt. Negt: „Wir brauchen die radikale Umverteilung der Arbeitszeit.“ Als die bei VW in Wolfsburg dann aber plötzlich in Form der Vier-Tage-Woche von Unternehmerseite vorgeschlagen wurde, habe die IG-Metall-Führung „völlig irritiert“ reagiert – und die Gunst der Stunde verpaßt, das VW-Modell zum Ausgangspunkt des großen gesellschaftlichen Umbaus zu machen.

Wie der denn sonst durchzusetzen wäre, dafür hatte der Hannoveraner Soziologe dann „auch keine praktischen Vorschläge“. Die kamen aus dem Publikum in Form der grünen Stichworte „Maschinensteuer“ und „Existenzgeld“. Oder, wie es aus dem Publikum hieß: „Wir brauchen nicht nur Freiheit in der Arbeit, sondern auch Freiheit von der Arbeit.“ Doch damit könne der DGB nichts anfangen, schließlich sei er ja die „Gewerkschaft der Erwerbstätigen“. Und auch die SPD habe ihre Chance verpaßt, eine großangelegte Politik der Arbeits-Umverteilung zu beginnen. „Die Parteifunktionäre wollen doch auch lieber Kohle als Zeit“, hieß es aus dem Publikum.

Ein Appell an den Staat war denn tatsächlich auch das einzige, was Bremens DGB-Vorsitzender zu diesem Thema einfiel. „Der Staat muß seine beschäftigungspolitische Verantwortung wieder erfüllen“, forderte Helga Ziegert. Die Herausforderung, die Negts Thesen für die Gewerkschaft bedeuten, wurde gestern abend jedenfalls nicht angenommen. Ase