Das Zentrum des Reichs der Mitte

Die städtischen Organisationsstrukturen in den Danweis der Altstadt von Peking  ■ Von Robert Kaltenbrunner

Peking (Beijing) bedeutet nichts anderes als „nördliche Hauptstadt“. Als Hauptstadt bildete Peking seit annähernd tausend Jahren nicht nur den Sitz des kaiserlichen Hofes und aller zentralen Verwaltungs- und Militärstellen, sondern auch den wissenschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt des Reiches. Peking ist auch Modell einer räumlichen, sozialen und politischen Ordnung.

Flächengestalt und Silhouette waren bis zur Jahrhundertwende trotz Feuers und Erdbeben weitgehend in der Form der alten Ming- Hauptstadt geblieben. Eine Million Menschen etwa lebten damals innerhalb der Mauern. Heute sind es mehr als fünf Millionen im bebauten Stadtgebiet und doppelt so viele im näheren Einzugsbereich. Entsprechend verändert hat sich das Erscheinungsbild. Am Stadtrand boomen neue Wohnsiedlungen wahrhaft respektabler Größenordnungen. Überall wuchern Hoteltower nach internationalen Maßstäben – und demselben austauschbaren Äußeren. Das massig-glitzernde World Trade Center setzt einen neuen Akzent im Osten der Stadt. Doch allem Anschein einer entfachten, nicht aufzuhaltenden Moderne zum Trotz, die strukturbildenden Hauptglieder der Stadt sind deswegen noch nicht obsolet geworden.

Bestimmte Prinzipien der innerstädtischen Flächengliederung sind mindestens genauso alt und bedeutend wie die „Verbotene Stadt“ oder der „Sommerpalast“. Verläßt man die großen Geschäfts- und Durchgangsstraßen in Richtung der kleinen Nebengassen – hutong genannt –, so gerät man hinter den mal monumentalen, mal billig verspiegelten Fassaden in eine andere, intimere Welt. Eine Welt, die in Gefahr ist, unter die Räder von Bulldozern zu kommen (wie es der grandiosen Stadtmauer bereits in den fünfziger Jahren erging). Schmale Wohnstraßen bilden Arbeits-, Spiel- und Aufenthaltsräume, in denen Kinder betreut, Räder repariert werden, Essen bereitet, Wäsche gewaschen und getrocknet wird. Wie lange sich diese traditionelle Form des — zugebenermaßen sehr beengten — Zusammenlebens noch hält ist fraglich.

Auf jeweils fünf Quadratmetern im Durchschnitt zusammengedrängt, leben die Menschen in ihren räumlich und sozial abgegrenzten danweis (chinesisch für „Grundeinheit“). Eine Situation, die selbst den Flaneur die Ambivalenz vorindustrieller Dorfstrukturen erahnen läßt: Ein hoher Grad an Geborgenheit, Vertrautheit, wechselseitiger Fürsorge und das sichere Wissen um die enge Einbindung in ein soziales Netz stehen einer dichten sozialen Kontrolle und Abhängigkeit vom Urteil anderer gegenüber. Insbesondere die Jugendlichen sind in diesem sozialen Netz starken Sanktionen ausgesetzt. Wo verläuft die Grenze zwischen Sicherheit und Überwachung? Allen Assoziationsketten, die bei uns unweigerlich zum „Blockwart“ führen, zum Trotz: jene „tausend unsichtbaren Augen“, die Jane Jacobs für das Funktionieren einer städtischen Öffentlichkeit für unabdingbar hält, bieten einen Schutz, den unsere Metropolen mehr und mehr vermissen lassen.

Dabei ist diese Art von nachbarlichem Zusammenschluß beileibe keine originäre Erfindung der KP; vielmehr griff sie Bestehendes auf, organisierte es um und instrumentalisierte es. Bao jia, das System der Familienverbände, hat in China eine jahrhunderte- oder jahrtausendelange Tradition. Seine Wurzeln liegen auf dem Lande. Dort hatte es sich als Ausformung praktischer Erfordernisse des bäuerlichen Alltags ergeben. Dieses System war darüber hinaus für viele Dynastien ein wichtiger Pfeiler für die Verwaltung ihres Reiches. Die Familien wurden in Gruppen zusammengefaßt, die sich gegenseitig überwachen sollten und kollektiv für ihr Wohlverhalten haftbar waren. Die Vorstände nahmen Verwaltungs- und Polizeiaufgaben wahr, erstatteten in regelmäßigen Abständen den Behörden Bericht und entlasteten so den im Vergleich zur Größe des Reiches minimalen Verwaltungsapparat. Sie waren für die Registrierung der Haushalte, Meldung von Geburten, Todesfällen und Besuchen zuständig. Dieses Regime war, in seinen vielfältigen Abhängigkeiten, unterschiedlich effektiv, und es waren schließlich die chinesischen Kommunisten, denen es gelang, das System zur Perfektion zu entwickeln. Sie verbanden es mit der Ideologie der großen kommunistischen Familie und setzen das Prinzip der Gruppen- oder Familienhaftung rigoros durch.

Geht man als Fremder durch jene Bereiche, die von der Altstadt übriggeblieben sind, so erkennt man sehr schnell, daß danwei keine rein ideelle Angelegenheit ist, sondern sich baulich manifestiert. Zunächst wird dem fremden Flaneur das Phänomen endloser Mauern auffallen, die selbst in der Metropole große Flächen umschließen und nur selten einmal von einem mehr oder weniger repräsentativen Eingangstor unterbrochen werden. Diese unüberschaubaren Mauern, die die Produktions- und Ausbildungsstätten, aber auch Wohnviertel häufig umgeben, sind das deutlichste Merkmal für die Abgeschlossenheit und Eigenständigkeit der einzelnen danweis. Sie kreisen gleichsam die gesellschaftlichen „Grundeinheiten“ ein, und zwar jede für sich; den Fremden, den Unbefugten aber schließen sie aus. Die Mauer umgrenzt – sinnlich wahrnehmbar – außerhalb der privaten Wohnung jenen halb öffentlichen, halb privaten Bereich der danweis, in dem man sich „zu Hause“ fühlt, zu dem man gehört und wo jeder jeden kennt.

Zwar brach, nach der gängigen Meinung, das neue Regime gänzlich mit der hergebrachten alten, mit der feudalen Stadt. Aber hinter einer pathetischen Rhetorik verbargen sich oft gegensätzliche Strategien: zum einen der Wunsch der KP nach einer repräsentativen Mitte, was soviel heißt, wie mehrere große Magistralen und einen gewaltigen (Aufmarsch-)Platz zu implantieren, welche jeweils von grandiosen Bauten überhöht werden. Zum anderen der Drang, der Metropole eine gänzlich andere Funktion zuzuschreiben. Unter dem berühmt-berüchtigten Diktum, statt „Konsumenten“- nun „Produzentenstädte“ zu schaffen, wurde dieser flugs in die Tat umgesetzt. Peking wurde so zur Industriestadt, die an sich selbst zu ersticken droht – eine moderne Allerwelts-Agglomeration. Daneben aber existieren Exklaven urbanistischer Tradition. Ohne eine erkennbare Hierarchie der Stadtteile – sieht man einmal vom Zentrum ab – scheint Peking aus einer Summe kleiner, abgegrenzter Nachbarschaften zu bestehen. Im Innenbereich der Stadt ist sie kleinteilig, flach, eng, verwohnt, lebendig. An ihren Rändern dagegen amorphe Quartiere: Hier wuchert ein Massenwohnungsbau – geschaffen unter der Maxime absoluter Sparsamkeit. Eine Bauweise, die die reine Form feiert und dem Bewohner selbst in der eigenen Wohnung die Unvollständigkeit seiner Existenz bildhaft vor Augen führt. Hier, am Saum der Stadt, sind die Gegenden, in denen die dünnen Betonskelette fast auseinanderzubrechen scheinen unter dem Druck der Bewohner. Aus den Fenstern stülpt sich das Innenleben ins Freie hinaus. Wie lange Fahnen hängt an Bambusstangen die Wäsche zum Trocknen aus, Fenster für Fenster, von Ferne wirken die Wände wie mit einer stachligen Haut überzogen.

Welch eine Diskrepanz zwischen Peripherie und Zentrum! In den verbliebenen Altstadtbereichen treffen sich Vergangenheit und Gegenwart. Dorfstraßen – Straßendörfer, mit eigenem Lebensrhythmus ohne Durchgangsverkehr, und doch eingebunden in das Gefüge der Großstadt. Durch eine drängende Beengtheit und die Allgegenwärtigkeit von anderen erscheint das Private merkwürdig öffentlich. Und umgekehrt fasziniert immer wieder die Unbefangenheit, mit der öffentliche Räume zum privaten Leben genutzt werden – beispielsweise zum gemeinschaftlichen Essen, aber auch zur wohl intimsten Tätigkeit, zum Schlafen. Überhaupt: diese Veränderung, die zwischen Tag und Nacht liegt! Mit der Dämmerung beginnt dieses millimetergenau geordnete Chaos von innen zu glühen und läßt überraschend Raum für neue Situationen: Wo wenige Stunden zuvor noch dichtes Gedränge herrschte, werden nun Tische und Stühle aufgestellt, schmale Straßenlokale eröffnet. Eine tagsüber unvorstellbare Ruhe beginnt sich überall auszubreiten.

Doch die danweis als originäre chinesische Erscheinung sind für die Verantwortlichen keine nostalgischen Relikte, die man bewahren muß, sondern vor allem eins: hochgradig effizient in ihrer gesellschaftspolitischen Zielsetzung. Es ging und geht nicht um das Individuum, sondern um ein in jeder Hinsicht leistungsfähiges Ordnungsmuster, welches ein breitgestreutes Repertoire von Eingriffsmöglichkeiten bietet. Pekings Nachbarschaften sind insofern ein Modellbeispiel von Planung, die traditionelle Ordnungsmuster aufs neue bemüht. Als sozialräumliche Organisationsform verlieren die danweis im augenblicklichen Prozeß der wirtschaftlichen Dynamik mehr und mehr ihre gesellschaftsprägende Bedeutung. Seit geraumer Zeit setzte der Umschwung ein – ein Umschwung, von dem noch nicht sicher ist, ob er der Stadt zum Vorteil gereicht. Zwar wird mit dem 1983 ratifizierten Generalplan die Abkehr von der einseitigen Industrieförderung festgeschrieben, zwar soll die gesamte Altstadt als Flächendenkmal einer protektiven Erneuerung zugeführt werden. Dennoch ist bis dato nicht klar, ob die Kanalisierung des Wachstums Erfolg haben wird. Konzentrisch frißt sich Peking immer weiter ins Umland. Eine Ringstraße nach der anderen wird notwendig, obgleich Dezentralisierung großgeschrieben wird. Es scheint, als unterläge das Wachstum einer kaum mehr steuerbaren Eigendynamik. Zugleich aber konzentrieren sich die Debatten auf die Mitte der Stadt. Viele der heute wichtigen Architekten verweisen in ihrem Bemühen, die für das Erbe der ganzen Nation so wichtige Altstadt zu erhalten und „repräsentativ“ umzugestalten, auf die klassischen Prinzipien des Städtebaus.