Kaindl-Prozeß

■ betr.: „Spiel mir das Lied vom Tod“, taz vom 21.10.94

[...] Warum setzt der Autor das Wort „antifaschistisch“ in Anführungszeichen? Will er dadurch den Leuten, deren Engagement über das Halten von Kerzen hinausgeht, die politische Legitimation für ihr Handeln absprechen?

Warum bezeichnet/verharmlost er die organisierten Rechtsextremisten als „Ostpreußen-Fans“, als „friedlich am Kneipentisch sitzende Menschen“ (unpolitische, betrunkene Einzeltäter oder was?). Als ob sie für die rassistischen Untaten, die sie propagieren, nicht die geringste Verantwortung haben. Und warum bezeichnet er den rassistischen Mörder von Ufuk Șahin nicht als solchen, sondern als „wildgewordenen Deutschen“?

Warum steht die Filmmusik aus „Spiel mir das Lied vom Tod“,die, wie er sagt, einen Rep-Werbespot untermalte, auf dem Titel im Zusammenhang mit einem vermummten Autonomen? Soll der Leser denken oder glauben, daß es gängige Praxis der Antifas sei, ihre politischen Gegner reihenweise umzubringen? Warum festigt er damit die staatliche Propaganda von „rechts“ gleich „links“ und „wir in der Mitte“ und verharmlost damit gleichzeitig die tägliche rassistische Gewalt?

Wie kann man mit dem heutigen Wissensstand behaupten, daß die (West-)Berliner Szene anläßlich der Drohungen von Neonazis zu Hitlers 100. Geburtstag von „Panik und Paranoia“ erfaßt wurde? [...] Die Diffamierung von Schutzmaßnahmen und Demonstrationen der ImmigrantInnen und ihrer UnterstützerInnen als Panikmache und Paranoia (im Volksmund als „Verfolgungswahn“ bekannt), ist nach Hoyerswerda, Mölln, Rostock, Magdeburg ... eine Beleidigung für alle Opfer der rassistischen Gewalt.

[...] Auf welcher Grundlage wirft Eberhard Seidel-Pielen der Gruppe „Antifașist Gençlik“ vor, sie „heizte die Stimmung an“? Waren für eben diese Stimmung nicht etwa der deutschnationale Wiedervereinigungstaumel, die hetzerische Asyldebatte, die offene Duldung faschistischer Aktivitäten durch Justiz und Polizei verantwortlich, sondern die Selbstorganisation von „den Ausländern“?

Zu guter Letzt würde mich interessieren, ob es für Eberhard Seidel-Pielen auch einen Unterschied macht, wenn Menschen anderer Hautfarbe von „Faschisten“, „parteilosen Rechten“, „organisierten Rechtsextremisten“ oder („nur“) „Rechtskonservativen“ das Recht abgesprochen bekommen, in diesem Land zu leben. Jochen Krämer, Bensheim

[...] Dein Artikel vom 21.10.94 in der taz verurteilt die Jugendlichen beziehungsweise die jungen Erwachsenen vor Gericht, wie es sich die Staatsanwältin wünscht. Der Prozeß ist noch gar nicht abgeschlossen, aber in Deinem Artikel wird eine öffentliche Meinung provoziert, die auf den Fantasien der Staatsschutzbeamten begründet ist. [...]

Ich würde diesen Artikel begrüßen, wenn Du die gleiche Sensibilität bei den Geschehnissen in Hoyerswerda, Mölln, Solingen, Rostock usw. gezeigt hättest. Dann könnte man daraus schließen, daß Du generell gegen Gewalt bist.

Hier gehst Du plötzlich nicht mehr auf die soziale Situation der Jugendlichen ein, genauso wie die Politiker und Sozialarbeiter in der Vergangenheit in bezug auf die rassistischen Übergriffe argumentieren. Sie haben die Angriffe mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Zukunftsangst usw. entschuldigt beziehungsweise gerechtfertigt. Dein Artikel hätte auch die Situation der Angeklagten im Alter von 16 bis 31 Jahren schildern können. Die Immigranten-Jugendlichen haben ja nicht nur die oben genannten Probleme, sondern sie haben täglich mit Ausgrenzung aus rassistischen Gründen zu tun. Durch Deinen einseitigen Artikel versuchst Du, die Jugendlichen mit nichtdeutschem Paß vor dem Gericht für uneingeschränkt schuldig zu erklären, zumindest die Öffentlichkeit dazu zu beeinflussen. Wir sind seit mehr als 30 Jahren mit unseren Problemen allein gelassen worden. Aber wir sind auch selbst damit fertig geworden, also erschwere es uns nicht zusätzlich. Die Menschen, die von Dir als Opfer dargestellt werden, Pagel, Kaindl und Thaler, sind Opfer ihrer eigenen Politik geworden. Dadurch, daß Du diese Leute auch noch statt Faschisten rechte Politiker nennst, versuchst Du nämlich, ihre Identität vom Extremen ins Akzeptable zu verwaschen. [...]

Antifașist Gençlik (AG) ist und war niemals ein Schlägertrupp wie Du es in Deinem Artikel geschrieben hast, sondern Antifașist Gençlik wollte in erster Linie den wachsenden Rassismus in Deutschland stoppen. Wir wollten nicht nur gegen Rassisten kämpfen, sondern auch gegen solche, die sich als angeblich immigrantenfreundlich zeigten, zum Beispiel AL, SPD und sogenannte Linksintellektuelle. AG wollte dem passiven Verhalten der Immigranten ein Ende setzen. Wir wollten eine Opposition schaffen gegen die verbreitete Staatspolitik, die darin bestand und besteht, die Immigranten zu Sündenböcken für eine falsche Politik zu machen, zum Beispiel, um Asylgesetze oder Ausländergesetze zu verschärfen. AG wollte verhindern, daß sich Faschisten und Rassisten immer mehr vermehren und ausbreiten. Wir haben dies getan, indem wir versucht haben, rassistische Kundgebungen, Demos usw. zu stören oder aufzulösen. Es war aber nie im Sinne von Antifașist Gençlik und der Antifa allgemein, daß jemand liegenbleibt, also getötet wird. Es kam bundesweit zum ersten Mal vor und es ist unwichtig, wie tief das Messer gestochen wurde oder welches Organ getroffen wurde. [...] Wenn ein Jugendlicher emotional oder aus Angst handelt, dann ist das im Kontext zu sehen. Es ist eine Tatsache, daß zur Zeit ein rassistisches Klima in Deutschland herrscht, das bis jetzt 60 Todesopfer durch rassistische Übergriffe gefordert hat. [...] Erkan Avni,

ein betroffener Immigrant