■ Wenn Stefan Heym in die Rolle von Emile Zola schlüpft ...
: Das kürzeste Verfahren

Im Regal der Lieblingsbücher stehen auch zwei von Stefan Heym. „Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe“ ist das eine, 78 Seiten, der volkseigene DDR- Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig erklärte 1974 auf der Rückseite: „Wie Daniel Defoe, der spätere Robinson-Autor, wegen einer Satire von den herrschenden Dunkelmännern seiner Zeit eingekerkert und an den Pranger geschleift, schließlich aber durch die Solidarität des Volkes befreit wurde ...“ In Leipzig passierte später einiges, stimmt. Im Buch selber geht es am 26. Februar 1703 eher juristisch zu: „... gleichlaufend mit dem Verfahren vor dem Gericht wurde auf Veranlassung meines Lords eine Beschwerde in den Commons vorgebracht, und das Haus beschloß auf der Stelle die öffentliche Verbrennung der aufrührerischen und gehässigen Schmähschrift ,Das kürzeste Verfahren mit den Abweichlern‘“. Wieviel Geld könntest du zahlen müssen, Bärbel, wenn Gysi/ Senfft durchkommen? 500.000. Da du keine Kohle hast, wie lange in den Knast? Höchstens zwei Jahre.

Das zweite Lieblingsbuch ist der „König David Bericht“. Zitat: „Es obliegt mir nicht, zu werten. Ich sammle, ich ordne, ich teile ein, ein bescheidener Diener im Hause des Wissens; ich deute und versuche, die Gestalt der Dinge darzustellen und ihren Lauf zu verzeichnen.“ Katja, hast du wieder einen Bericht von GMS „Gregor“/IMS „Notar“/ OPK-IM „Sputnik“ gefunden? Ja. Die Registriernummern? Stimmen überein. Er kann sich an nichts erinnern, auch nicht an Lohr und Reuter? Nein. Suchst du weiter? Ja, ich sehe die Akten durch, da sind viele IMs. Hast du schon eine Anklage aus Hamburg? Noch nicht.

Regelrecht literarisch kann man werden heutzutage. In den Büchern stimmt es, wenn die Autoren selber loslegen, kann es peinlich werden in Berlin und Bonn schon gar. Der eher ängstliche, bei Verfolgungen abwesende Freund Heym übernimmt im politischen Getümmel plötzlich die Totenstimme von Robert Havemann, sagt bei der Bundespressekonferenz im Hier und Heute, was einer bestimmt gesagt hätte zu diesem und jenem. Frau und Freunde werden „bösartig“ genannt. Heym nimmt Havemann her vor späteren laufenden Kameras, er lebt noch, o.k.? Wie peinlich, wie irreführend, wie hilflos diese versuchte Nähe! „Ich bin kein Dissident“, ließ der Autor der Lieblingsbücher einst Konny Naumann (SED) wissen. Aber Havemann war einer. Er hat es riskiert und hat einen Preis gezahlt.

Noch Erinnerungen? Ja, zwei. Zur ersten konnte der PDS-Politiker Zwerenz trotz großer gestikulierender Heftigkeit nichts sagen bei „Talk im Turm“ am 18.9.94 live, es betraf ja auch nicht ihn. Im November 76 ging ein berühmter Autor zum kleinen Volkspolizeiabschnitt Berlin-Grünau und übergab etwas dem diensthabenden Offizier, auf dem mein Name stand. Ich saß gerade in der Stasi- U-Haft Hohenschönhausen. Ein Telegramm war angekommen aus West-Berlin, es erbat Solidarität mit einem jungen, unbekannten Schriftsteller. Vielleicht hatte es ein Westagent aufgegeben? Sorry, verfluchte Aktenlektüre, so etwas möchte man gar nicht wissen!

Erinnerung zwei: Meine Frau besucht eine Kirchenlesung, spricht den Autor an, erzählt von der Inhaftierung des Mannes. Der Autor hört zu, gibt ihr dreihundert Mark, wortlos. Heute will er Geld sammeln für ein Heim obdachloser Kinder im Prenzlauer Berg, gut so.

Und Dreyfus, Antisemitismus, Hetze gegen einen Unschuldigen, der mit gefälschten Dokumenten erledigt werden soll von einer voreingenommenen Justiz, einer chauvinistischen, fremdenfeindlichen Presse? Wer ist heute der Übeltäter? Wer soll die Klappe halten oder in den Knast? Gregor Gysi, der DDR- Karrierist und sogar noch Vorsitzende der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vor der überraschenden Umbenennung? Was würde Zola über wen schreiben, heute, nach den Wahlen und dem Wiedereinzug der Honecker-Stellvertreter und mutmaßlichen IMs ins freigewählte deutsche Parlament?

Zola, denke ich mir, aber dann dürfte er nicht Stefan Heym heißen, würde mal bei Bärbel oder Katja anrufen zwischen den ihnen aufgezwungenen Prozessen und freiwillig absolvierten Studientagen in Akten einer zweiten deutschen Diktatur. Er würde ein paar Worte wechseln und sich zum Tee verabreden, denke ich.

Soli-Briefe kommen schon. Ralph Giordano: „Ich verfolge die Auseinandersetzung Katja Havemann/Jürgen Fuchs einerseits und Gregor Gysi/PDS andererseits mit einer Art unfreiwilligem Sarkasmus – mir kommt das alles urbekannt vor aus der Zeit nach 1945; keiner war Nazi, niemand Denunziant, jeder Widerstandskämpfer. Nein, ich werfe die Scheußlichkeit des real existierenden Sozialismus nicht in einen Geschichtstopf mit dem singulären Holocaust- und Auschwitzstaat der Nazis. Aber ich stelle unüberrascht fest, daß die Internationale der Verdränger überall das gleiche entstellte Antlitz zeigt: statt zu gestehen, verteidigt sie sich. Das Gesetz daraus heißt, unweigerlich: Lüge. Also möchte man ihnen zurufen: Erlöst nicht nur Eure Opfer, sondern vor allem Euch selbst – mit der Wahrheit.

Aber natürlich, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn diese Regel befolgt werden würde. Dennoch gilt auch für die stalinistische Fraktion der deutschen Verdränger: die Wahrheit, ihre Wahrheit, kommt an den Tag – es ist nur eine Frage der Zeit. Ich spüre keine Sekunde Zweifel, auf wessen Seite ich bei dieser zum Glück öffentlichen Auseinandersetzung stehe. Sie ist exemplarisch und wird uns noch lange begleiten – die Verdränger sind hartnäckig. Katja Havemann und Jürgen Fuchs müssen hartnäckiger sein.“

Danke, Ralph Giordano. Du hast deine Bücher im ehrlichen Ton des Emile Zola („J'accuse“ – Ich klage an) geschrieben – wir haben sie gelesen. „Hartnäckiger“ sollen wir sein, gut. Dann kann es passieren, daß in der taz steht: „Es bleiben die Bilder der über ihre Stasiakten gebeugten BürgerrechtlerInnen“ ... „Aufrecht im Abseits“, wie Matthias Geis formulierte. Besser so als verlogen im Rampenlicht der Wahlpartys! Wahrheit ist ja meist ein komischer, ungebetener Gast. Die Suche nach ihr eher peinlich und nervend. Jürgen Fuchs

Schriftsteller, wenige Tage nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 aus dem Auto Havemanns heraus verhaftet und ein Jahr später nach Westberlin abgeschoben