Bilder in Sichtkontakt

Aufforderung an die Betrachterin: die Ausstellung „Erzählen“ in der Berliner Akademie der Künste  ■ Von Andrea Kern

„Erzählen“, brachte Gertrude Stein 1934 während eines Vortrags ihren Gegenstand definitorisch auf den Punkt, „Erzählen ist, was jeder über irgend etwas, das auf irgendeine Weise geschehen kann, geschehen ist oder geschehen wird, auf irgendeine Weise zu sagen hat.“ Weniger läßt sich dazu kaum sagen. Mehr vielleicht auch nicht.

Daß die von Kurator Michael Glasmeier und den beiden Künstlerinnen Katharina Meldner und Margaretha Dreher gemeinsam für die Akademie der Künste konzipierte Ausstellung den Titel „Erzählen“ trägt, nimmt die lapidare Definition der Stein beim Wort: Mehr soll über das, was die ausgestellten Arbeiten der elf Künstlerinnen tun, nicht gesagt werden. Weder thematisch noch personell, noch sonst irgendwie sind die Arbeiten geordnet. Ihr Ordnungsprinzip entfalten sie im Kopf der Betrachterin, die, auf der Suche nach Ähnlichkeiten und Gegensätzen, die Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien und Videos in Sichtkontakt miteinander bringt. Ohne daß sich die Arbeiten der verschiedenen Künstlerinnen explizit aufeinander beziehen würden, gelingt ihnen hier dennoch etwas in einer Gruppenausstellung äußerst Seltenes: Sie kommentieren einander.

Eine mögliche Konstellation bilden etwa die Klanginstallation von Christina Kubisch und die Fingerabdrücke von Eva-Maria Schön. Scheinen doch die „Zwölf Klänge und ein Baum“ (1994) der akustische Kontrapunkt zu Schöns Arbeit „Druck und Gegendruck“ (1994) zu sein. Schön setzt darin konsequent ihre vor vier Jahren begonnene Abdruckserie „Parallele Natur“ fort. Abermals evozieren ihre Fingerabdrücke auf dem Papier den Eindruck einer Gestalt, die unmittelbar aus der Natur zu stammen scheint. Ein paläontologischer Fund, der zwar eine Spur festhält, doch nicht die der Natur, sondern die einer sich ruckartig bewegenden Hand. Ebenso spielt auch Christina Kubischs präparierter Baum im Innenhof der Akademie mit der Analogie zur Natur: Zahlreiche kleine Lautsprecher hat sie in dem Baum versteckt, aus denen jeweils in geregelter Tonabfolge ein anderer Alarmsummer piepst, pfeift, trillert und kreischt. Die Intensität der Töne wird über neun Solarzellen gesteuert, nachts also hört man nichts. Doch während Christina Kubisch die Natur(klänge) als Vorlage verwendet, die sie mit technischem Kalkül imitiert, sind die fossilen Abdrücke von Eva-Maria Schön nicht als Imitation angelegt: Die Imitation ist der Effekt einer Arbeit, die gar nicht auf eine Vorlage bezogen ist.

Eine andere Konstellation: Die Fotografien von Helga Paris und das Bild „Konkrete Erinnerung IV“ (1994) von Margarete Dreher. Das Bild ist eine riesige Wand aus schwarz bemalten Papierbögen, die die Künstlerin hinter verglaste Rahmen gesetzt hat. Auf dem Boden liegen weiße Neonröhren, die, statt die Aufmerksamkeit auf das Bild zu lenken, die Betrachterin beleuchten und sie so mit sich selbst konfrontieren: Sie steht plötzlich vor ihrem Spiegelbild. Der minimalistische Einsatz des Bildes galt folglich nur auf Widerruf: Über den Umweg des Schwarzbildes löst es seinen Titel ein: Man erinnert sich.

Die Fotoserie „Erinnerungen an Z.“ (1993/94) von Helga Paris dagegen schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Die konkreten Erinnerungen an Menschen, Landschaften und Häuser ihrer Kindheit in Zossen, die sie auf den Fotos festgehalten hat, sind unscharf und zum Teil überblendet. Das nimmt den Fotos ihren privaten Charakter und verfremdet sie ins Allgemeine. Nicht mehr dieses bestimmte Haus, das mit bestimmten Erinnerungen verknüpft ist, ist zu sehen, sondern bloß irgendein Haus, das Erinnerungen allenfalls noch abstrakt dokumentiert.

Aber vielleicht müßte man ihre Fotos auch in einer ganz anderen Konstellation betrachten? Etwa zusammen mit Anne Katrin Dolvens 20minütigem Standvideo von der Spree? Das wiederum ließe sich in Beziehung setzen zu den 15 Lichtkästen von Ayse Erkmen, die selbst wiederum... Auf einmal scheint der Gedanke nicht mehr unwahrscheinlich, daß „Erzählen“ gar nicht der „Titel“ der Ausstellung ist, sondern die Aufforderung an die Betrachterin meint, die scheinbar disparaten Bilder der Künstlerinnen selbst zu einer Erzählung zu verstricken. Die Überschrift verpflichtet die Betrachterin nicht auf ein thematisches Zentrum, sondern gibt ihr die Freiheit, als Erzählerin ein Teil der Ausstellung zu sein.

Wer übrigens einen Beitrag zum Thema „Weibliche Ästhetik“ erwartet hatte, muß enttäuscht werden. Daß hier nur Frauen ausstellen, ist einzig dem Umstand geschuldet, daß das Projekt aus dem Künstlerinnenprogramm des Berliner Senats mitfinanziert wurde. Der weibliche Blick in den Bildern versteht sich in dieser Ausstellung daher nicht programmatisch, sondern von selbst.

Bis zum 27. Nov. 94 in der Akademie der Künste, Berlin. Der Katalog kostet 28 Mark.