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„Noch nie eine Mücke totgeschlagen?“

Die Gewissensinquisition für Kriegsdienstverweigerer gibt es immer noch / Zufälle und Launen machen aus den Kandidaten Zivis oder Soldaten / Aus dem nichtöffentlichen Prüfungsausschuß  ■ Beisitzer Bert Müllder

Ich öffne die Tür zum Verhandlungszimmer im Gesundheitsamt von Dortmund und denke gleich: Das ist der GAU. Zwei grauhaarige Männer sitzen da in der grauen Trostlosigkeit des Tagungsraums; beide näher an den 70 als an den 60. Erbarmungslos taucht sofort das alte Klischee auf: Zwei verhärmte Alte, stockkonservativ, womöglich Weltkriegsteilnehmer, werden heute zusammen mit mir den Prüfungsausschuß für Kriegsdienstverweigerer (KDV) bilden und über die Anträge von wehrunwilligen jungen Männern entscheiden. Wird es stets ein 1:2?

Draußen, in der düsteren Ödnis eines deutschen Amtsflures, hocken nervös die ersten Kandidaten – einer um Stunden zu früh – und hecheln noch einmal ihre sorgsam geschriebenen Begründungen durch. Acht stehen auf der Tagesliste. Für jeden sind in bürokratischer Sorgfalt exakt 45 Minuten eingeplant – eine Dreiviertelstunde, die einem Lebenslauf einen Knick geben kann.

Der erste Kandidat wird hereingebeten. Unsicher guckt er sich uns an, seine Prüfer. Ob er den gleichen Schreck bekommt? Oder eine Spur Vertrauen schöpft durch meine demonstrativ gewählte Garderobe: alte Jeans, Turnschuhe, poppiges T-Shirt? Der eine Graumann, Vorsitzender des Ausschusses und pensionierter Leiter eines Kreiswehrersatzamtes, erklärt dem Antragsteller, warum er trotz seines fortgeschrittenen Alters von 26 entgegen aller Amtspraxis zum nächsten Quartal zur Bundeswehr einberufen wurde: „Tja, wissen Sie, wenn jemand wie Sie mehrfach zurückgestellt worden ist, dann will man ihm doch erst recht noch Gelegenheit geben, den Dienst kennenzulernen ...“

Ganz das alte Strickmuster also. Das kann ja heiter werden.

Nach dem Verlesen seiner vielseitigen Begründung, in die der Verweigerer sorgfältig oft das Wort Gewissen eingebaut und in der er dringlich vom Grundgesetz Artikel 4, Absatz 3 gesprochen hat, fragt der Vorsitzende: „Sind Sie schon mal bei Rot über eine Ampel gefahren?“ – „Ja, äh ...“ – „Sie können nicht töten, haben Sie gesagt. Haben Sie nicht auch schon mal eine Mücke totgeschlagen?“ – „Ja sicher, aber ... äh ...“ – „Ein Unterschied? Wo beginnt denn Ihre hohe Wertschätzung des Lebens...“ Fehlt nur noch der Kalauer: „Sie als gewaltfreier Mensch können wahrscheinlich nicht mal Sahne schlagen, oder?“

Die interne Beratung. Ich frage, ob Fangfragen nach altem Muster sein müssen. „Ja, manchmal bricht es in mir eben noch durch“, sagt da der Vorsitzende durchaus freundlich. Aber das seien doch keine Fangfragen, er wolle sich lediglich dem Gewissen des jungen Mannes annähern. Abstimmung! Als Jüngster, so schreibt es das Gesetz vor, muß ich als erster den Daumen heben oder senken. Ich begründe mein Ja recht länglich. Anerkennen, sage ich, meinem Gewissen gehorchend. Der graue Kollege Beisitzer nickt väterlich. Erstaunlich! Damit steht es 2:0. Uneinholbar. Prima, einer wenigstens ist vor den Klauen der Bundeswehr gerettet.

Der nächste bitte ...

Ja, es gibt sie auch 1994 noch, die unseligen mündlichen Gewissensprüfungen. Entgegen allen Gerüchten und gegenteiligen Beteuerungen, vor allem vom früheren CDU-Jugendminister Heiner Geißler. Der seit seiner Gesetzesnovelle 1984 nicht müde wird, die Unwahrheit zu behaupten: „Die Gewissensprüfung ist abgeschafft“ – zuletzt im September als Studiogast im WDR-Magazin ZAK.

„Sie können wohl nicht mal Sahne schlagen“

Die Wahrheit ist: Geißler hat die peinlichen Gewissensdurchforstungen nicht abgeschafft. Niemand hat sie abgeschafft. Zeuge sind geschätzt an die hunderttausend Verweigerer, die seit 1984 weiterhin im inquisitorischen Verfahren ausgequetscht wurden. Die Prüfungsgremien sind besetzt von einem Bundeswehrvorsitzenden und zwei Beisitzern, die von den örtlichen Parteien nach Quote benannt werden.

Sicher, viele Verweigerer werden heute auf schriftlichem Wege anerkannt, weil eine verkleinerte Bundeswehr weniger Personal braucht und weil im Pflegenotstandsstaat der Bedarf an billigen und willigen Zivildienstleistenden nicht zu decken ist. Und doch gibt es laut Gesetz eine Reihe von Gruppen, für die nach wie vor automatisch der Prüfungsausschuß zuständig ist: Reservisten, aktive Soldaten, bereits Einberufene, Zweitanträge und alle Zweifelsfälle aus dem schriftlichen Verfahren.

Und es gibt heute so viele Verweigerer (1993: über 130.000), daß sich schon diese „Ausnahmen“ zu vielen tausend Fällen pro Jahr addieren. 1993 waren es gut 19.000, davon wurden rund zwei Drittel persönlich in den Ausschuß vorgeladen. Die Weltpolitik sorgt für zusätzliche Zwischenhochs: 1991, beim letzten Golfkrieg, kündigten allein im Januar zehntausend Reservisten.

Dabei haben die zuständigen Behörden die Möglichkeit, auch die Kandidaten der „Ausnahme“- Gruppen, sofern alle Unterlagen vollständig sind, ohne Anhörung anzuerkennen. Doch da ist die deutsche Bürokratie vor: Hat man einen solchen Prüfungsausschuß erst einmal installiert, will man ihn auch nutzen. Und ist der Verweigerer erst mal geladen, wird auch eine zünftige Befragung durchgezogen. Über einen Reservisten vor unserem Gewissensgremium sagt der Vorsitzende in der Beratungspause: „An dem hat die Bundeswehr ja sowieso keine Freude mehr. Es ist doch wie bei einer Handelsfirma: Die räumt auch ab und an das Lager und schmeißt alte Vorräte raus.“ Wir folgten der kaufmännischen Logik des Vorsitzenden und erkannten den Überschüssigen an.

Wie auch den nächsten aus dem großen Lagerbestand: Wieder hörten wir eine lange Begründung über schockierende Schlüsselerlebnisse beim Betrachten von Antikriegsfilmen, von Seelenqualen im Tötensfall, von christlicher Erziehung. Der Vorsitzende prüft Bibelstellen ab. Erfolgreich. Kurze Beratung: Anerkannt.

Dann ein „Elektromaschinenbauer in Ausbildung“ (Lebenslauf-Aktenvermerk). Er gibt als Hobbys an: „Mein Auto, der Computer und ein Biotop.“ Biotop als Hobby? „Ja, so'n Teich im Garten von mei'm Vater.“ Habe er gegraben und pflegt er nun. „Fangfragen darf ich nicht stellen“, lästert der Vorsitzer mit Seitenblick in meine Richtung, „wissen Sie, früher hat man gefragt, was würden Sie tun, wenn ...“ Und dann kommt: Tyrannenmordproblematik. „Ja, weiß ich nicht.“ Jemanden verteidigen in Nothilfe, auch mit Gewalt? „Ja, ääh.“ – „Stellen Sie sich vor, Sie im Wald, ihre Freundin...“ – „Hab' ich nich' momentan, also 'ne Freundin...“ Die Befragung des Biotopers wird abgebrochen. Das Ergebnis: Anerkannt.

Die Sitzungspausen. Ich durchschaue bald den Betrieb: Je kürzer die Diskussion mit und über Kandidaten, desto mehr Zeit bleibt fürs Kaffeetrinken und Klönen. Der sehr joviale Beisitzerkollege will ohnehin allen Streß vermeiden und berichtet mir an der Pißrinne von seiner Karriere als Flakhelfer in der Wehrmacht. Das verhilft ihm zu einer realistischen Betrachtungsweise: „Die jungen Leute heute meinen es ja alle ehrlich, aber in der Wirklichkeit ...“ Der Vorsitzende gibt in den Pausen, während sich draußen neue Antragsteller warmzittern, Witze, Gedichte und Anekdoten zum besten. Etwa der Art: „Einmal habe ich gesagt, der junge Mann wird sofort anerkannt. Er hat schon vier Schwestern, damit ist er genug geschlagen.“ Haha.

Der nächste bitte ...

Es gibt Berichte aus Prüfungsausschüssen, nach denen Beisitzer sozusagen zu Beischläfern geworden sind. Ignorant, desinteressiert, gelangweilt – und eben eingenickt. Ungeheuerlich so was. Und dann passiert es mir beinahe selbst.

„Es ist Pflegenotstand, und ich bin in der Kaserne“

Als der sechste Verweigerer des Tages in pastoralem Tonfall und unendlich ausführlich sein Begründungsepos zum besten gibt, fallen mir für einen Moment die Augen zu. „Ob denn“, donnert da die Stimme seines Beistands, eines wuchtigen Evangelenpfarrers, durch den Saal, „ob denn auch alles laut genug ist, damit die Beisitzer es verstehen ...“ Ich schäme mich.

Anerkennen ist einfach an diesem Tag. Auch der Vorsitzende erklärt sich mit allen „Jaworten“ einverstanden. Doch die Regel ist das nicht. In meiner Beisitzerkarriere durfte ich schon ganz andere Ausschußkonstellationen erleben: Etwa jene dienstbeflissene wie unsichere Verwaltungsassessorin bei ihrer ersten Sitzungsleitung, die zu jedem Fall in irgendwelchen Akten und Gesetzen nachlas und nach dem Motto „Einen ins Töpfchen, einen ins Kröpfchen“ verfahren wollte. Oder jene völlig ahnungslose Beisitzerin: „Mein Mann ist im Kreistag für die CDU, die haben niemanden für den Ausschuß gefunden, und da hat er eben mich gebeten.“

Manchmal wurde mit harten Bandagen um jeden einzelnen aus dem Vorratslager an Menschenmaterial gerungen. Nicht immer mit Erfolg. Etwa bei jenem Beisitzerkollegen, der da meinte: „Wir müssen auch mal einen ablehnen. Warum machen wir das sonst?“ Für die armen Verweigerer heißt das: In der amtlichen Farce um die Gewissenserforschung ist alles Zufall.

Vor unserem Ausschuß steht an diesem Tag noch Ahmed F. zur Entscheidung an, 22, Doppelstaatler, geboren in Marokko und seit zwei Wochen deutscher Soldat. Er ist als einziger mit Anzug und Krawatte erschienen. Der Vorsitzende bietet ihm an, Schlips und Jackett abzulegen. „Aber ich wollte doch einen guten Eindruck machen.“ Hotelkaufmann F., sein Leben lang „multikulturell aufgewachsen“, wie er betont, redet Klartext: „Die sogenannten Feinde aus anderen Staaten haben die Gesichter meiner Freunde aus Marokko, das Lachen meiner Kindheit.“ Er schluchzt. „Es ist Pflegenotstand im reichen Deutschland, und ich sitze sinnlos in der Kaserne.“ Bei der Beratung sind wir uns einig, daß es besser war, F. nicht zu fragen, wie es ihm als Mischling im deutschen Armeealltag ergehe.

F. hatte seinen Antrag frühzeitig gestellt, was seine Einberufung eigentlich hätte ausschließen müssen. Aber, erläutert ihm der Vorsitzende: „Wissen Sie, meine Geschäftsstelle war zuletzt so schwach besetzt, Ferienzeit, Krankheit, da hat das eben etwas länger gedauert.“ Eine Sekretärin im Urlaub: Darum wird man heute Soldat.

Die Entscheidung: „F. ist berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.“ Augenblicklich bricht der Verweigerer in herzzerreißendes Weinen aus. Heult hemmungslos, versucht, mit dem Schlips der Tränenflut Herr zu werden, und stammelt immer wieder „Danke, danke, so vielen Dank, danke ...“

Für den Moment kann man einen Menschen kaum glücklicher machen. Ahmed F., kein Zweifel, wird ein engagierter, hilfreicher Zivi sein. Doch zeige ihm niemand diesen Artikel. Sonst verliert er noch den Glauben an seine guten Argumente und sein Gewissen, und er schämt sich womöglich noch seiner ergreifenden Tränen. F. hat einfach Glück gehabt: Er hat einen Zeitpunkt erwischt, der die unkomplizierte Anerkennung erlaubt. Und ein Prüfungsgremium, das – aus unterschiedlichen Motiven seiner Mitglieder – an diesem Tag wie am Fließband eben jeden ohne jedes Problem anerkennt.

Ein anderer KDV-Ausschuß hätte vermutlich diese heulende Memme, dieses Oberweichei, augenblicklich in die Kaserne zurückbeordert, auf daß man einen richtigen Mann aus ihm mache.

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