Hegels Vergnügen am „Tivoli“

Die Geschichte des „Tivoli“ am Kreuzberg ist eine von dreißig Geschichten aus dem neuen Kreuzberg-Band der „Historischen Kommission zu Berlin“  ■ Von Uwe Rada

Am Anfang stand der Alkohol. Seit dem Spätmittelalter wurde auf dem „Runden Weinberg“ Wein angebaut. Bis die Franzosen kamen. Aus Furcht vor einer Belagerung Berlins durch Napoleon wurden die Rebstöcke im Jahr 1813 eilig abgeschlagen, um an ihrer Statt eine Zitadelle zu errichten. Ein unnötiger Akt der Zerstörung, wie sich herausstellte: Die Napoleonische Armee wurde bereits bei Großbeeren geschlagen. Zwar wurde die Zitadelle kurzerhand wieder abgetragen, als Weinberg jedoch hatte die Erhebung an der Nordseite des Teltower Höhenzugs bis auf weiteres ausgedient. In einem neu errichteten Gartenlokal wurde fortan Bier ausgeschenkt. Gleichzeitig mit dem bräunlichen Gerstensaft bekam der Hügel auch seinen Namen: Kreuzberg; benannt nach dem Eisernen Kreuz auf dem Schinkel-Denkmal anläßlich der Befreiungskriege gegen Napoleon.

Ein Gebilde, ein Soziotop wie Kreuzberg, als Bezirk erst mit der Bildung Groß-Berlins 1920 am grünen Tisch entstanden und zum Mythos gewachsen in den siebziger und achtziger Jahren, ist schwer zu fassen, ohne diesen Mythos zu bedienen. Die „Historische Kommission zu Berlin“ hat es auf ihre Weise geschafft und den Blick nach hinten gerichtet. Ohne Pathos, dafür mit viel Liebe zum sozialgeschichtlichen Detail wird auf 530 Seiten Kreuzberger „Geschichtslandschaft“ zelebriert, werden Geschichten erzählt, die selbst Einheimische nicht zum Standardrepertoire zählen dürften: die Blindenanstalt in der Oranienstraße, das Kaufhaus Wertheim am Moritzplatz, die Desinfektionsanstalt in der Ohlauer Straße, die Deutschen Telefonwerke, der „erste Computer“ von Konrad Zuse.

Und natürlich der „Tivoli“ auf dem Kreuzberg. Gegen den Willen Schinkels und zur Freude der Berliner eröffnete der Vergnügungspark am Fuße des Denkmals 1829 seine Pforten. Hauptattraktion war die „Kreisfahrbahn“, an deren Rundkurs selbst der damalige Neukreuzberger und Exil- Schwabe Georg Friedrich Wilhelm Hegel Gefallen fand. Lange freilich währte das Plaisir nicht. Nicht nur das liberale Gedankengut des Bürgertums hatte mit einer tiefgreifenden Absatzkrise zu kämpfen, sondern auch der Ausschank der Berliner Brauereien. „Der Kartoffelschnaps“, weiß der Sozialhistoriker Hasso Spode, „hatte das Bier als Alltagsdroge und Nahrungsmittel abgelöst.“

Das änderte sich erst nach der gescheiterten Revolution von 1848 (während der eine Bürgerwehr verhindern mußte, daß das Schinkel-Denkmal rot angestrichen wurde). Der gute Geschmack des Berliner Bürgertums wandte sich von freiheitlichen Vorstellungen ab in Richtung Süden. Das „bayrisch Bier“ löste die Berliner Weiße ab, wurde zum Verkaufsschlager und die neu gegründete Brauerei auf dem Kreuzberg bald zur größten der ganzen Stadt.

Doch Kreuzberg wäre nicht Kreuzberg, wäre die Krise nicht von Dauer. Zwanzig Jahre nach dem ersten Hauptstadtbeschluß von 1871 wurde die Brauerei am Tivoli von Schultheiss geschluckt und mußte schließlich im letzten Jahr, drei Jahre nach dem zweiten Haupstadtbeschluß, endgültig die Pforten schließen. Der Alkohol aus Kreuzberg war zu Ende. Der Alkoholkonsum seiner Bewohner freilich, so steht zu vermuten, wird Kreuzberg überdauern. „Noch scheint der Alltag wenig verändert“, resümieren die Herausgeber fünf Jahre nach dem Mauerfall, „doch die Tage des Kreuzberger Soziotops sind gezählt.“

Ein Kreuzberg-Band zur rechten Zeit also. Mithin ein Erinnerungsbuch, weil die Kreuzberger Zukunft derzeit unbeschreiblich scheint. Sowohl sozialgeschichtlich als auch als geographisches Gebilde. Denn bald schon soll ja — ähnlich wie vom ehemaligen Postbezirk SO 36 — auch vom Verwaltungsbezirk am Fuße des gleichnamigen Hügels nur noch in der Vergangenheitsform geredet werden.

Kreuzberg. Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse. Hrsg. von der Historischen Kommission zu Berlin, Nicolai-Verlag, 530 Seiten, 58 Mark