Weggelaufen und mit Verachtung bestraft

■ Fotoausstellung über die etwa 3.000 in Berlin lebenden Straßenkinder eröffnet

Sie sind meist älter als in den Ländern Asiens und Lateinamerikas, etwas besser gekleidet und leben in Nischen, in denen sie kaum einer findet, sie fallen kaum auf: Straßenkinder. Sie leben nicht nur in Ländern der Dritten Welt, sondern mitten unter uns. In Berlin sind es einem Bericht des Deutschen Kinderschutzbundes zufolge etwa 3.000 Minderjährige. Sie leben auf der Straße – das heißt ohne festen Wohnsitz. Viele haben sich in leerstehenden Häusern verkrochen, andere prostituieren sich für ein warmes Bett. Anlaufstellen oder staatliche Hilfen gibt es für sie kaum.

Um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, luden Vertreter mehrerer Projekte Dienstag abend zu einer Veranstaltung ins Foyer der Senatsjugendverwaltung. Dort wurde eine Fotoausstellung eröffnet – eine Gegenüberstellung von Straßenkindern im indonesischen Yogyakarta und in Berlin.

„Passe dich nicht an, wenn deine Seele dabei stirbt“, hat die 16jährige Chris aus der besetzten Kastanienallee 71 an die Wand gesprüht, vor der sie sich fotografieren ließ. Anders als in südlichen Ländern brechen Berliner Jugendliche oft beabsichtigt aus der Erwachsenenwelt aus, fliehen vor Unterdrückung und Repression. Die Straße erscheint ihnen besser als das Zuhause, das nie eins war, auch wenn sie dort, auf der Straße, extrem krankheits- und suchtgefährdet sind.

„Das Weglaufen ist eine natürliche Reaktion des Körpers auf Gefahr“, erklärte Rainer von Feldt, Mitarbeiter der Schöneberger Kontakt- und Beratungsstelle KUB, die überwiegend mit Ausreißern zu tun hat. „Das müssen wir endlich erkennen und anerkennen.“ In gewisser Hinsicht seien Straßenkinder auch „brave Kinder“, so von Feldt – sie erfüllten in der Familie die Rolle des Ausgestoßenen, liefen weg, würden dafür mit Verachtung bestraft und in der Öffentlichkeit verfolgt und vertrieben.

Von Feldt forderte, den Berliner Straßenkindern Mittel zur Verfügung zu stellen. „Sie ersparen der Erwachsenenwelt viel Geld und Erziehungsstreß. Wenigstens ein Teil sollte ihnen bedingungslos zur Verfügung gestellt werden.“ Bedingungslos, das hieße unter Anerkennung der Tatsache, daß Straßenkinder andere Werte als Arbeit und Bildung verfolgen – Musik, Kiezküchen, Instandsetzungen besetzter Häuse. Entgegen der klassischen Stereotype entwickelten Straßenkinder außerdem enorme positive soziale Kompetenzen. „Sie wissen oft selber, was gut für sie ist. Statt Erziehungshilfen sollten wir ihnen Anschluß an Strom und fließendes Wasser zur Verfügung stellen.“ In seinem Plädoyer für unbürokratische Lebenshilfen regte von Feldt außerdem an, einen runden Tisch zum Thema obdachlose Minderjährige einzurichten. Jeannette Goddar