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Der erste und der letzte Film

Die Stasi, das Kinojubiläum und ein Verein unter Vorsitz von Wim Wenders  ■ Von Thorsten Schmitz

Sechs Monate lang haben sich im Ostberliner Stadtteil Pankow 17 Männer und Frauen den Kopf darüber zerbrochen, mit welchen Filmen in dieser ersten Novemberwoche des 100. Kinojubiläumsjahres zu gedenken sei. Es schien der Projektgruppe, die ausschließlich aus ABM-Kräften besteht und vom Pankower Arbeitsamt für ein Jahr finanziert wird, am sinnvollsten, die Jubelwoche thematisch einzugrenzen. So werden bis zum geschichtsträchtigen 9. November paritätisch in einem Ost- und einem Westberliner Kino 45 Filme gezeigt, die alle einen sogenannten „Berlinbezug“ aufweisen. Die Projektgruppe hat sich ins Vereinsregister unter der Bezeichnung „Die ersten 100 Jahre Kino in Berlin e.V.“ eintragen lassen und einen so wohlklingenden Namen wie Wim Wenders als Vorstandsmitglied gewinnen können. Wenders' Tätigkeit beschränkt sich offenbar darauf, als Aushängeschild zu fungieren.

Den Charakter der „Berlinoscop“ getauften Filmtage in Berlin umschreiben die 17 ABM-Kräfte in einer siebenseitigen Pressemitteilung unter anderem so: „Der durchgängige Berlinbezug der ausgewählten Filme soll den übergreifenden Gedanken von Berlin als einem Zentrum deutscher Filmproduktion und -geschichte, als Hauptstadt, als herausragendem Ort geschichtlicher Ereignisse und menschlicher Schicksale erinnern und bekräftigen.“ Die Dokumentation menschlicher Schicksale und geschichtlicher Ereignisse ist allerdings etwas einseitig ausgefallen.

So werden „Himmel über Berlin“, „Berlin Alexanderplatz“, „Hauptmann von Köpenick“ und „Emil und die Detektive“ gezeigt. Es fehlen Filme, und das ist wirklich bemerkenswert, die in der DDR nie gezeigt wurden oder schon nach wenigen Tagen aus den Kinos „verschwanden“. Zum Beispiel „Roman einer jungen Ehe“, ein Spielfilm aus den frühen fünfziger Jahren über den Bau der Stalinallee, oder „Leichensache Zernik“, der als Krimi daherkommt, tatsächlich aber das Leben in den Häuserzeilen am Hauptbahnhof kurz vor ihrem Abriß festhält.

Der Berliner Filmemacher Dietmar Hochmuth sieht in der begrenzten Auswahl eine verpaßte Chance: „Der Verein hat sich für eine moderate, auffallend runde Variante entschieden und zeigt etwa aus dem Osten nur ordentliche und gute Filme, für die man sich nicht schämen muß.“ Hochmuth vermutet, daß bei der Auswahl unterschwellig „alte Schutzmechanismen oder Animositäten“ gewirkt hätten.

So undenkbar ist das nicht, denn die 17 ABM-Kräfte kommen allesamt aus der Administration der DDR-Defa, der „Deutschen Film Aktiengesellschaft“. Dort hatten sie bis zur Wende als Dramaturgen, Techniker, Übersetzer, Graphiker oder Lektoren gearbeitet. Der Staatsbetrieb Defa war so harmonisch strukturiert, daß zwischen 1966 und 1980 kein einziger verbotener Film an die Öffentlichkeit gelangte. Die zu verbietenden Filme wurden nach Drehbuchvisitation gar nicht erst gedreht oder aufführbar umgearbeitet. Hans Dieter Mäde, von 1977 bis zum Februar 1989 Generaldirektor der Defa und Mitglied im Zentralkomitee der SED, gab Nachwuchsregisseuren immer diese Warnung mit auf den Weg: „Bedenken sie immer, daß Sie möglicherweise gleich zwei Filme auf einmal machen: ihren ersten und ihren letzten.“

Rudolf Jürschik war einer von Mädes Vertrauten. Jürschik arbeitete, ebenfalls bis kurz vor dem Mauerfall, als Chefdramaturg bei der Defa. Deren Dramaturgie war als „Stasi-Abteilung“ verrufen, wie sich ein Regisseur heute erinnert. Seit der Wende war Rudolf Jürschik arbeitslos, zum ersten Mal erhält er nun wieder, wenn auch nur für ein Jahr, ein monatliches Gehalt: Jürschik leitet den Verein „Die ersten 100 Jahre Kino in Berlin“. Seine Aufgabe sieht Jürschik auch darin, gegen die „Vorherrschaft der Amerikaner im Kino“ zu kämpfen, ihren „Einfluß zu begrenzen“.

Achim Seidel*, 45, hat jahrelang bei der Defa versucht, Spielfilmideen zu realisieren. Manchmal durfte er, oft aber wurde seinen Drehbüchern „Belanglosigkeit“ attestiert – das war die höfliche Umschreibung für politisch nicht korrekt. „Wir haben alle Probleme gehabt mit der Defa-Leistung“, sagt Seidel heute. Daß Rudolf Jürschik, einer seiner Chefs von damals, nun das Berlinbild als Festveranstalter bestimmt, findet Seidel fast noch verständlich: „Ausgerechnet den will ja nun keiner wiederhaben.“

Jürschik sei eine „tragische Figur“, denn er habe durchaus eine intellektuelle Beziehung zum Film, die er aber ständig dem Parteigeist zu opfern hatte. „Er war ein Meister in geistiger Akrobatik“, sagt Seidel über Jürschik. Und erinnert sich, wie wortreich und gedrechselt der Chefdramaturg den Abbruch von Dreharbeiten begründet hatte. Jürschik habe „sehr vielen Leuten sehr geschadet“ und jüngeren Regisseuren „sehr viele Hürden“ in den Weg gestellt.

Peter Kemper*, 41, arbeitete mehrere Jahre bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN, bevor er zur Defa kam. Dort war er als Dramaturg und Autor für Dokumentarfilme im Defa-Studio angestellt. Rudolf Jürschik ist ihm aus täglicher gemeinsamer Arbeit bekannt. Kempers Urteil: „Jürschik hat eine zwiespältige Rolle gespielt. Er war auch einer von denen, die Filme verhindert haben.“

Karl Heinz Lotz*, 47, besaß noch bis 1990 einen Regievertrag mit der Defa, dann wurde er entlassen. Zu Jürschiks Rolle innerhalb des Defa-Betriebs fällt ihm nur ein, daß er, Lotz, acht Jahre dafür kämpfen mußte, einen Film über einen Behinderten drehen zu dürfen. „Rückwärts laufen kann ich auch“ – Jürschik habe ihm damals erklärt, woraus die sozialistische Gesellschaft bestehe – aus Produktionsmitteln und aus Produktionskräften. Behinderte, soll Jürschik gesagt haben, „sind im sozialistischen Sinne keine Produktionskräfte“. Dank der Wende hat Lotz seinen Film dann doch noch drehen dürfen.

Rudolf Jürschik hat kein Interesse daran, mit Journalisten über seine Rolle bei der Defa zu sprechen. „Ich rede mit den Leuten, die mir etwas vorzuwerfen haben“, sagte er. Die aber haben keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen.

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